[ im märz 1999 ]
Ein Advokat hält ein verwinkeltes Verteidigungsplädoyer, das seinen tiefen Fall beweist. Ex-Streetworker Matt Jacob beackert widerwillig zwei Fälle, die ihm seine Therapeutin und sein Anwalt-Freund aufzwängen. Erst lesen, dann sehen: Ein ganz einfacher Plan

Scott Smith: Ein ganz einfacher Plan

Die Coen-Brüder lieben Sam Raimi, und ich liebe die Coen-Brüder. Und jetzt hat Sam Raimi ein Buch verfilmt, daß ich schon immer lesen wollte, und so drängt es mich ins Kino. Aber erstmal drängte es mich zum Buch, das seit beinahe einem halben Jahrzehnt auf meiner Leseliste stand.

Ein ganz einfacher Planvon Scott Smith war in der ersten Hälfte der Neunziger nicht nur ein Überraschungsbestseller sondern, so paradox wie es klingen mag, auch ein Geheimtip – nämlich unter jenen, sich selbst als ernsthafter begreifenden, Lesern, die dem Thrillergenre nicht unbedingt besonders aufgeschlossen gegenüberstehen. Um ein Stück große Literatur, sagten sie, solle es sich handeln, und Robert Harris, der Autor von Vaterland, schrieb in einer Besprechung von einem raren Kunstwerk. Ich habe mir das Buch dreimal gekauft, auf englisch, auf deutsch und nun wieder auf englisch. Und jetzt endlich habe ich es auch gelesen (in der Originalfassung, so daß ein Urteil zur Übersetzung ausbleiben muß), und, um es vorwegzunehmen, Harris und meine ernsteren Freunde, sie haben recht.

Ungeheurlich ist das Buch, und zwar auf eine Weise, eine brutale, einschneidende, brutal subtile Weise, die es schwer macht, sich die Geschichte, das Unerhörte, das, was einem, ohne daß man es zunächst bemerkte, den Boden unter den Füßen weggezogen hat, nicht von der Seele zu reden. Dreimal habe ich die letzten Tage angefangen, von dem Buch zu erzählen, dreimal wurde ich unterwegs gestoppt, ich möge doch nicht zuviel verraten. Und jedesmal habe ich es eingesehen, weil ich weiß, daß es gut war auch für mich, damals nicht zuviel in Erfahrung zu bringen.

An der Oberfläche, soviel kann nun doch gesagt werden, handelt Ein ganz einfacher Plan davon, was man macht, wenn man zu dritt in einem abgestürzten Privatflugzeug eine Tasche mit viereinhalb Millionen Dollar findet, sie behalten aber gleichzeitig nicht das geringste Risiko eingehen will, gefaßt zu werden. Und daher kommt natürlich der Titel. Der Ich-Erzähler hat ihn, den einfachen Plan. Daß er nicht aufgeht, versteht sich von selbst.

Auf welche Weise er nicht aufgeht dagegen nicht. Ich hatte Trivialeres erwartet. Aber Scott Smith kennt kein Erbarmen, das Spiel mit Erwartungen versteht er so gut wie kaum ein anderer. (Robert Harris fällt mir noch ein, aber dies nur nebenbei.) Und Smith arbeitet mit einer effektiven Doppelstrategie. Einerseits wird man als Leser in die Irre geführt, und andererseits – und da fängt die Ungeheurlichkeit  – nutzt er die so erzeugte Verwirrung, um Dinge selbsverständlich erscheinen zu lassen, die, nun, die es nicht sind. Und gegen die später einsetzende Verstörung darüber ist die anfängliche Verwirrung (nein, es kommen keine Mafiagangster, die sich die Kohle wieder holen wollen) nichts. Der Unterschied ist der zwischen An-einem-Morgen- kurzzeitig-nicht-mehr- wissen-daß-man- in-einem-Hotel- geschlafen-hat und In-einem-Hotel- aufwachen-ohne-es- tatsächlich-je- betreten-zu-haben.

Viel Vergnügen. (cm)

GOLDMANN Taschenbuch 1996, DM 14.90

 

Georg M. Oswald: Lichtenbergs Fall

Lichtenbergs Fall beginnt mit seiner Vernehmung. Der arrivierte Jurist Lichtenberg wird des Mordes an seiner Schwiegermutter angeklagt. Die Anklage allein ist schon unwiderruflicher Beleg für den tiefen Fall Lichtenbergs, der als hoffnungsvoller 19jähriger zu einer einmaligen Karriere ansetzte. In die Tochter der reichen Witwe Orlow verliebt, setzt er alles daran, Lisa  zu ehelichen und sie dem Einfluß der Schwiegermutter zu entreißen. Lichtenberg studiert Jura, besteht mit Prädikat, arbeitet sich in einer Top-Kanzlei nach oben, setzt Kinder in die Welt – kurzum: Lichtenberg ist von außen betrachtet ein äußerst erfolgreicher, angepaßter Karrierist und Familienvater. Er selbst zeichnet bei seiner Vernehmung das Bild seiner schleichenden Zersetzung, die er durch Überkompensation an gesellschaftliche Normen konterkarrieren will – und doch nur karikieren kann. Er widmet sich der Rechtswissenschaft, um den typischen Juristen ein Schnippchen zu schlagen. Er wird Eins-A-Jurist, um Lisa mit Geld und Einfluß dem Orlowschen Familienmolekül zu entreißen. Er kauft eine teure Wohnung, um die Familie später dorthin umzusiedeln und einstweilen Lisas Schwester dort unterzubringen. Seine eloquente Verteidigungsrede gegen den Mord aus Geldgier an seiner Schwiegermutter entlarvt sein gutbürgerliches Leben als den eigentlichen Ruin: Lichtenberg ist so geblendet von Reichtum und Erfolg, daß er sich – unbemerkt=unmerklich – dem Mammon und den Normen ergibt, die er zu verachten vorgibt.

Lichtenberg ist einer von uns, ein typischer Charakter aus unserer Mitte. Sein Fall mißt die Höhe des Falls von der Suche nach Erfolg & Glück & Reichtum an den Rand des Abgrunds. Lichtenbergs Fall ist überaus genüßliches Lesevernügen. Sarkastisch und hintergründig wird der enge Raum zwischen individualistischen Lebensplänen und gesellschaftlichen Normen vermessen. (cm)

btb Taschenbuch 1999, DM 14

Zachary Klein: Die Lebenden und die Toten

Er ist der Slumlord, Verwalter eines billigen Appartmenthaus und vegitiert dort unglücklich aber bekifft vor sich hin. Der Ex-Streetworker gammelt seit dem Tod seiner Familie drogenberauscht in seinem Appartment. Seine Therapeutin Dr. James und auch sein einziger Freund Simon finden, er könnte Gebrauch von seiner Privatdetektivlizenz machen. Matt Jacob wird auf zwei kleine Fälle angesetzt. Für seine Therapeutin soll er einen Bruch aufklären, für seinen Freund die Alpträume seiner Ehefrau. So reißt sich Matt widerwillig von TV, Siff und Suff los, legt die Selbstzweifel einstweilen beiseite und tourt halbherzig durch ein heruntergekommenes Boston, das so trost- und hoffnungslos ist wie Matts Innenleben. Die sonderbaren Vorfälle wachsen sich bald zu einem gewaltigen Fall aus, und am Ende gibt Matt sein abgeschirmtes Einsiedlerdasein und Selbstmitleid auf, um sich neuen Aufgaben zu stellen.

Ein schräger Krimi aus einer fremden Welt, in der physische Gewalt, Dope und Einsamkeit eine explosive Mischung bilden. Ein brillanter Krimi mit scharfgestochenen, kantigen Charakteren. Ein verstörender Krimi, der nicht wagt, die moralische Überlegenheit unseres behaglichen Mittelklassedasein zu bestätigen, der vielmehr Tür und Tor zu einer verschlossenen Welt öffnet und Matts Selbstzweifel an uns weiterreicht. Ohne Sozialquatsch, ohne Psychogeschwätz. Zachary Klein zeichnet in Die Lebenden und die Toten eine harte Welt, eine Welt voller Wut, eine gerechte Welt. Kurzum: beste Lektüre, die Gelbe Reihe. (cm)

Ullstein Gelbe Reihe, Taschenbuch 1999, DM 16,90


Februar 1999

Olivia Kleinknecht: Liebeslohn
Donna Leon: A Noble Radiance
Tim Parks: Europa
Dietrich Schwanitz: Der Zirkel
Carl Hiaasen: Unter die Haut

Januar 1999

Carl Hiaasen: Lucky you

Dezember 1998

John McCabe: Stickleback
Ben Elton: Popcorn
Enrico Remmert: Looove never dies

November 1998

Benjamin v. Stuckrad-Barre: Soloalbum
Quim Monzó: Das ganze Ausmaß der Tragödie
Tom Zürcher: Högo Sopatis ermittelt

Oktober 1998

Jonathan Coe: Das Haus des Schlafes
Sherman Alexie: Indian Killer
Joseph T. Klempner: Spadafinos Verhängnis
James Hawes: Ein weißer Mercedes mit Heckflossen

September 1998

Larry Baker: Feuerzauber
Fred Beinersdorfer: Das Biest
Petra Würth: Unter Strom
Carl Djerassi: NO
Herbert Rosendorfer: Ungeplante Abgänge
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