[ neues im oktober 1998 ]
Im Oktober empfehlen wir Ihnen, Coes fabelhaftes Haus des Schlafes zu entdecken, die Identität des Indian Killer zu enthüllen, an Spadafinos Verhängnis Anteil zu nehmen und mehr über den PLAN für den perfekten Banküberfall mit einem weißen Mercedes mit Heckflossen zu erfahren. 

Jonathan Coe: Das Haus des Schlafes

I had a dream about a hospital once’, sagt Robert, als er mit Freund Terry und dessen Freundin Lynne nachmittags um drei im Auto sitzt, im Auto, das am Straßenrand steht, weil der Regen nur so runterhaut und die Scheibenwischer ihre Dienste versagen. Terry ist Filmstudent und schläft vierzehn Stunden jede Nacht, während denen er die schönsten Träume träumt, denn Terry träumt perfekte Träume.

‘I hardly ever dream these days’, sagt Robert und schweigt danach, aber dann fällt ihm der eine Traum ein, geträumt vor langer Zeit, als er acht war oder neun, und er erzählt: ‘... I'm in this very arid landscape, very hilly and dusty. And there's this woman, a middle-aged woman, in a nurse's uniform, and she's standing by the side of the road, pointing: pointing off into the distance. There's a big building somewhere ahead of us on the road that's where she's pointing at. I can see it faintly, and I know it's a hospital. Some sort of military hospital, actually. And just behind her there's a notice. She's standing in front of it so I can't read it. [...] There's just one word, but I can't see what it is. That's the maddening thing. All I know is that it's in a foreign language.’ 

Kein spektakulärer Traum, sicher, und doch wird man später weinen über ihn. Und nicht nur weinen, denn etwas, etwas ist merkwürdig an Roberts Traum. Das Bild der Krankenschwester auf der Straße, mit Haus und Schild und allem anderen, das Bild gibt es wirklich, und es wurde aufgenommen, als er acht war oder neun. Noch lagert es in einem Filmarchiv in Rom. Aber bald, einszwei Jahre später, wird Terry es finden, ohne sich jedoch zu erinnern, daß Robert es ihm einst beschrieben hat, und es wird ein Schatz für ihn sein, denn das Bild, so wird er ergründen, stammt aus Salvatore Orteses letztem Film, dem verschollenen Sergente Cesso, und ist der einzige Beweis, daß es das düstere Meisterwerk wirklich gegeben hat. 

Terry wird Filmkritiker und nicht viel später Zyniker. Das heißgeliebte Szenenfoto landet in einer Kruschelkiste, und auch die perfekten Träume verschwinden. Denn Terry hört auf zu schlafen. Als Gregory, der einst mit Sarah, Roberts großer Liebe schlief und heute eine Schlafklinik im selben Haus leitet, in dem sie alle einmal als Studenten gewohnt haben, von Terrys Schlafverzicht erfährt, lädt er ihn ein, noch einmal zurückzukommen, nach Ashdown, ins einstige Wohnheim. Und Terry kommt, und er wird, obwohl Gregory ganz andere Pläne hat, wieder lernen zu schlafen und zu träumen, und das wird ihn an das Foto erinnern, das er einst so sehr geliebt, das Foto, von dem Robert träumte. 

Robert, der Sarah so sehr liebte und nicht minder an ihr litt, da sie sich weder für Gregory noch für ihn entscheiden konnte, sondern statt dessen Veronica wählte, Robert ist der einzige, von dem wir nichts mehr hören im jetzigen Teil der Geschichte. Das letzte, was wir von ihm wissen, stammt aus einem Brief an Sarah, in dem er behauptet, die wahre Bedeutung seines Traums erfahren zu haben. Danach scheint er verschwunden, wenn auch nicht vergessen. Doch er ist es nicht. Er hat sich nur verändert. Wobei ihm der Traum den Weg gewiesen hat. Am Ende, dann, wenn auch Terry ein neues Leben beginnen will und es dank eines Psychopathen auch führen wird, am Ende wird ihm der Traum ein weiteres Mal den Weg weisen. Und er wird wissen, was einst auf dem Schild gestanden hat. 

Jonathan Coe hat einmal gesagt, er arbeite ein Jahr an einer Geschichte, bevor er auch nur den ersten Satz schreibe. Wer The House of Sleep  liest, weiß, daß das glaubhaft ist. Niemand, und zwar wirklich niemand liefert dieser Tage auch nur annähernd fein verwobene, subtil geflochtene Romane, in denen kein Fädchen franst. Und während ihm dies in seinen früheren Romanen nicht nur zur Stärke sondern auch zur Schwäche gereichte – weil am Ende oft das Staunen fehlte, weil die Perfektion das Wundern verdrängte –: ist hier alles anders. Man klappt das Buch zu, und es entfaltet seine volle Wucht. Wer keine Gänsehaut bekommt, kann sich getrost als verloren melden.

Piper Verlag 1998, Hardcover, DM 44

 

Sherman Alexie: Indian Killer

Seattle, USA: „Indian Killer" wird der Unbekannte genannt, der typische Weiße der Stadt auf grausame Weise ermordet. Zunächst einen weißen Mittelschichts-Studenten, dann einen blauäugigen blonden Knaben. Wer ist das nächste Opfer? Die Stadt gerät in Angst und Aufregung, scheinen doch hier die Rollen von Opfer und Täter vertauscht, Weiße werden bedroht, Indianer sind die Akteure: die Welt gerät ins Wanken. Auch die indianische Bevölkerung Seattles ist in Aufruhr. Marie kämpft an der Universität (gegen Uniprof Dr. Mather) für die Rechte ihrer indianischen Mitbürger und betreut indianische Obdachlose. Ihr Kampf für gesellschaftliche Anerkennung findet ihr Pendant im Kampf John Smiths um eine Identität. Indianischer Adoptivsohn weiß-wohlhabender Eltern, versteht er ihre Welt nicht. Er träumt von einer Existenz unter seinesgleichen im Reservat und ist doch zu unsicher, um sich ein Zuhause zu suchen. Er verzweifelt er an seinem Unglück, verstummt und wird halb wahnsinnig. Wahnsinn treibt auch Marie, wenn sie an Jack Wilson, den Autor populärer Indianerkrimis, denkt. Der wähnt sich indianischer Abstammung und widmet sich in seinem neusten Werk den Morden des „Indian Killer", der derweil zu neuen Taten schreitet. 

Die Geschichten der vielen Personen in Indian Killer sind eng verwoben. John Smith, Marie, der Indian Killer, Dr. Mather und Jack Wilson sind einige Fixpunkte, deren Lebenslinien sich in Indian Killer kreuzen und so ein imaginäres Netz bilden, in dem alle gefangen sind. Sie bilden einen Mikrokosmos des melting pot-Amerika ab, das an der Kluft zwischen schriftlich verbrieften Freiheitsrechten kultureller Gruppen und anhaltender Dominanz der weißen Mittelschicht zu zerbrechen droht. Denn die Kluft, das ist der „Indian Killer". Er mobilisiert Ängste der Weißen vor der Macht der Minderheiten, die das Gefüge Seattles aus dem Gleichgewicht bringen – ein Gleichgewicht, das Außenseitern wie John Smith seit jeher fremd war. 

Sherman Alexie ist es mit Indian Killer gelungen, offen, fesselnd und einfühlsam über das Zusammenleben vieler Kulturen zu schreiben. Und das, ohne in hohle Phrasen des Pathos oder der political correctness zu verfallen oder die Menschen in ihrer Kultur oder Gruppe untergehen zu lassen. Er schreibt geradeheraus, und, ja, auch unterhaltend. Ein herausragendes Buch. 

Manhattan (by Goldmann) 1998, DM 20

Joseph T. Klempner: Spadafinos Verhängnis

Dean Abernathy ist Strafverteidiger in New York. Über seinen neusten Fall ist er nicht begeistert: der obdachlose und vorbestrafte Joey Spadafino soll einen Raubmord an Polizeichef Wilson begangen haben. Geld handelt sich Abernathy mit dem armen Mandanten nicht ein, wohl aber jede Menge Ärger. Denn Abernathy ist ein durch und durch überzeugter Verteidiger: er spürt den Ungereimtheiten des Falls nach und deckt unschöne Machenschaften bei den staatlichen Ordnungshütern auf. 

Spadafinos Verhängnis ist ein packender Thriller, der vom Sieg des kleinen Mannes gegen die große Maschinerie der Institutionen erzählt. Gerechtigkeit und Moral bleiben hier keine wirklichkeitsfernen Ideale, das verbriefte Recht auf die beste Verteidigung kein leeres Versprechen. Fast meint man, der Autor und Rechtsgelehrte Klempner habe eigene Erfahrungen in einen brillanten Kriminalroman verpackt, so authentisch wirkt sein Buch. Doch Spadafinos Verhängnis bietet weit mehr: Klempner beleuchtet das Spiel von Justiz und Recht. Und er hat in dem Strafverteidiger die moralische Neutralinstanz der Gesellschaft erkannt. Dean Abernathy ist der einzige, der die Fragen nach Schuld und Unschuld, nach Gut und Böse nicht beantworten muß. Sein Job ist es einzig, die gegebenen Regeln für den geschicktesten Zug zum Wohle seines Mandanten zu nutzen. Er darf, er muß kein Urteil fällen; sein Job ist es, das Gesetz anzuwenden: „’Das Leben ist nicht immer fair’, sagte Dean, ohne zu überlegen, ob das Gesetz fair war oder nicht. ‘Das ist das Gesetz’." Abernathys Fall wird nicht nur seinem Mandanten Spadafino zum Verhängnis. Beide müssen sich am Ende entscheiden und neben dem Urteil der Staatsanwaltschaft ein eigenes Urteil fällen. 

Ullsteins Gelbe Reihe ist eine der besten Thrillerreihen des deutschen Buchmarktes, die für immer neue Überraschungen gut ist und der wir eine lange Liste weiterer Publikationen wünschen. Den Gelbe-Reihe-Titel Spadafinos Verhängnis können wir getrost zu den besten Krimis dieses Jahres zählen. Thrillerliebhaber, Gesellschaftskritiker, Verschwörungstheoretiker – sie alle kommen bei der Lektüre voll auf ihre Kosten. 

Ullstein Taschenbuch, 1998, DM 18,90

A White Merc with Fins

 James Hawes: Ein weißer Mercedes mit Heckflossen

Scheiße. Wenn die Lebensperspektive aus McJobs, Wohnklo und dem Abschied aus dem Mittelklasseparadies besteht, muß man ernsthaft über Alternativen nachdenken. Entscheidungen stehen an: Alle Illusionen und Träume über Bord werfen und Buchhalter werden oder das Risiko wagen: Ein junger Londoner entwirft den Plan eines gewaltlosen, einzigartigen Banküberfalls, von dem er eine Gang Gleichgesinnter überzeugt. Er überzeugt auch uns, die wir vor ganz ähnlichen Problemen stehen, ob wir in Deutschland, England, Frankreich leben – egal. Europa erholt sich erst allmählich vom neoliberalen Segen, und derweil ist es, wie es ist: Das Heilsversprechen von Mammis und Pappis Mittelschichtswelt bleibt – der Arbeitsmarktkrise sei dank – unerfüllbar; der Uniabschluß qualifiziert gerade mal für exotische Zeitarbeitsjobs; in der Liebe kann man nicht punkten ohne Karriereeinschnitte hinzunehmen; kurzum: das Leben ist dröge, einsam und kostspielig. Der Glaube an den Fortschritt ist uns genommen; wir kontern mit Kreativität: und wie James Hawes' Held bräuchten wir einen genialen Plan; ich schwöre: wir würden einen solch genialen Plan – zum Teufel, ja! – in die Tat umsetzen. Alles was man braucht ist einen weißen Mercedes mit Heckflossen, Typen in Doggie-Style-Klamotten (genau! Doggie wie in Reservoir Dogs, dem Tarantino-Cultstreifen), eine Privatbank, Kontakte zur IRA und ruhige Nerven. 

James Hawes hat mit Ein weißer Mercedes mit Heckflossen einen genialen, einen komischen und anrührenden Roman geschrieben, der den Nerv der Zeit trifft und all jene von uns mit der Welt versöhnt, die ebenso wie die jungen Engländer Angst haben, älter und aller Träume beraubt zu werden: Hawes Buch ist wortgewandt (ein Lob auf die Übersetzung!) und witzig, hintergründig gesellschaftskritisch und komisch. Wir warten gespannt die deutsche Ausgabe seines nächsten Roman Rancid Aluminium

„Man sollte Leute wie uns wirklich nicht auf die Universität schicken. Das ist Schwachsinn, man könnte ebensogut einfach ehrlich sein und uns mit 18 Jahren in Banken arbeiten lassen oder uns auf Universitäten nur Buchhaltung oder auf Lehramt oder so studieren lasen. Statt dessen kriegst du drei Jahre die interessanten Sachen, und dann sagen sie dir: O.K., Jungs und Mädels, die gute Nachricht ist: ihr habt jetzt das Recht, einen total bescheuerten Akademikerhut und -mantel zu tragen (um zu beweisen, daß ihr intelligent seid). 
Die schlechte Nachricht ist: das war’s schon.
Ja, Jungs und Mädels, ihr habt eure kostenlose Probe von dem Leben der richtigen Mittelschicht bekommen.... jetzt müßt ihr Buchhalter oder Lehrer werden, oder für ICI mutige, neue Deos entwickeln.
Ist das in Ordnung?" 

dtv Taschenbuch 1998, DM 19,90


September 1998

Larry Baker: Feuerzauber
Fred Beinersdorfer: Das Biest
Petra Würth: Unter Strom
Carl Djerassi: NO
Herbert Rosendorfer: Ungeplante Abgänge

August 1998

John Burdett: Eine private Affaire
David Huggins: Der grosse Kuss
Nicholas Blincoe: Acid Killers
Martin Amis: Interview, 1999 und eine Website
 

Juli 1998

James Lee Burke: Cimarron Rose
Morton Harry Olsen: Die Osiris-Morde 
Iain Banks: A Song of Stone
Elmore Leonard: Zuckerschnute
Donna Masini: Alles über Yvonne
James Crumley: Jeder gräbt sein eigenes Grab
Anonymous: Mit aller Macht

[ home ]