[ neues im dezember 1998 ]
Zum Jahresende präsentieren wir Ihnen eine bunte Mischung von Titeln von durch und durch europäischen Autoren : Looove never dies des Turiners Remmert, Stichling von John McCabe, Popcorn von Ben Elton.

John McCabe: Stichling

Ian kennt zwei Zustände der Welt: den ohne Freundin und den mit Freundin. Auf beide antwortet er mit stereotypen Verhaltensmustern, die das Leben für ihn um so vieles berechenbarer machen. Lebensziel im Falle A ist, ganz allgemein, zu gammeln, Lebensziel im Falle B ist, eine Frau davon zu überzeugen, daß man nicht ein Mann vom Typ A ist. Ian hat keine Freundin mehr; und bald muß er zu den zwei Zuständen der Welt einen neuen, den der Unberechenbarkeit, hinzuzählen. Das bereitet seiner Langweilerexistenz bei der Computerhotline ein jähes Ende. Mit Ians 29. Geburtstag gerät alles aus den Fugen: plötzlich stellen ihm plötzlich brutale Gorillas nach, die nicht nur nach seinem Leben trachten, sondern auch noch Archie, seinen verhaßten Arbeitskollegen, in ihrer Gewalt haben und Ian erpressen. Wow, welch eine Aufregung in Ians leben kommt und welch Kreativität er an den Tag legt, um aus dieser Klemme zu kommen! Am Ende findet er ein neues Leben und einen neuen Lebenssinn.

John McCabe kann äußerst unterhaltsam schreiben. Wir wünschen uns weitere Lektüre von ihm, denn er hat originelle Einfälle, die er seinem lonely rider-Helden unterjubelt. Stickleback ist ein schnelles Buch über einen nine-to-five-Job, über Alkoholexzesse und Männerfreundschaften, über Fußball und Mädels und Technikfreaks und Trekkifreaks und über das, was in und das was out ist, und schließlich auch über eine Riesenmenge Geld. Mit dem Helden aus Stichling werden sich zweifellos Horden junger Männer identifizieren, die sich – neben der heimlichen Suche nach Abenteuer – in Wahrheit nichts sehnlicher wünschen als ein überschaubares, planbares Leben.

Wir wünschen uns von John McCabe vor allem aber mehr Stoff; mehr als die Wiederholung – zugegeben virtuos – beschriebener Lebenskrisen, mehr als einen passiven Helden, der aus seinem Liebeskummer nur durch einen bedrohlichen Schurken und einen drögen Computerheini aufgeweckt wird. Den Helden der ausgehenden 90er Jahre, den strammen Individualisten, der an der Normalität des bürgerlichen Daseins verzweifelt – und zwar auffällig häufig dann, wenn die liebenden Arme seiner Freundin ihn nicht mehr umfassen –, diesen Helden haben wir zu Genüge kennengelernt. Soloalbum. Faserland. Es wird Zeit, daß diese jungen Männer erwachsen werden. Bis dahin dürfen sie uns ruhig mit der schönen Seite des Jungseins unterhalten, wenn sie Stichling heißt.

Fretz & Wasmuth Verlag, Hardsover 1999, DM 29,90 
(engl. Stickleback, übersetzt von Philipp Thuering)

Ben Elton: Popcorn

Schnelle Schnitte, rasante Szenenwechsel: Am Morgen danach sitzt Bruce Delamitri, Oskar-dekorierter Kultfilmmacher bei der Polizei, ein Wrack. Schnitt. Am Morgen davor hatte Bruce Delamitri mit postmodernem Gequatsche in einer Morgentalkshow geglänzt. Schnitt. Am Morgen danach wird eine junge Frau von der Polizei verhört, eine Mörderin? Schnitt. Am Abend zuvor hatte die junge Frau mit Delamitri-Fan und Brutalo Wayne, ausgerechnet Wayne!, in einem Motel den Eifersucht provozierenden Koch des Etablissements niedergemetzelt. - Was ist passiert? Davor und danach? 

Delamitri produziert Kultfilme, gewalt- und sexdurchtränkte Portraits von Ordinary American, wie er betont: er spiegelt die Welt, sonnt sich im Glanze dieses Spiegels. Delamitri glaubt nicht, daß der Spiegel widerspiegelt. Doppelt spiegelt. Den Vorwurf der Medien, die Morde, die Amerika erschüttern, seien Copy-Cat-Morde, ist völlig abwegig. Er soll die Verantwortung der Gesellschaft für ihre Monster schultern. Seine Filme als Vorlage für die Realität? Unmöglich. Niemals!

Wayne produziert Gewalt. Er zieht sich jeden Delamitri-Streifen über fünfzigmal rein, kennt jede Szene, lebt jede Szene nach. Der bewundernde Blick seiner "Zuckerschnecke" ist Echo seines Egoismus, seiner Gewalt, ist sein Spiegel. Gemeinsam ziehen sie durch das Kleinstadtamerika, eine Spur der Verwüstung und der Brutalität hinterlassend, ein Abziehbild Delamitris Filmsequenzen.

Unaufhaltbar rasen die beiden Realitäten aufeinander zu. Showdown ist die Nacht nach der Oskar-Verleihung, in Bruce Delamitris Haus treffen der Kultstar und sein Fan, der Aufsteiger und der Outcast aufeinander. Wer behält recht? Sind Delamitris Filme billige Vorlage für die Copy-Cat-Morde? Oder sind sie eine Entschuldigung für Wayne? Amerika wird sich selbst erkennen, verkünden die Reporter des Showdowns.

Eltons Buch ist durchtränkt von bitterer Ironie, ist grotest überzogen und grandios verzerrt, ist komisch und wild und bunt und schnell. Realität und Reminiszenz, Film und Fantasie verschmelzen, die Helden folgen der selben Moral, Medien, Macher und Mörder sitzen an einem Tisch. - Doppelte Ironie ist, daß Elton seinen beiden Helden schon früh die Moral in den Mund legt: Bruce sagt: "Das war mein Plädoyer. Das habe ich gesagt. Nicht: 'Tut mir leid, Euer Ehren, ich bin ein unverantwortlicher Sack', sondern 'Ich kann nichts dafür, ich bin eine suchtgefährdete Persönlichkeit! Ich hatte ein Problem." Und Wayne sagt: "Du wirst sagen, daß wir 'Produkte einer Gesellschaft sind, die der Gewalt huldigt.'"

Letzte Ironie: Ben Eltons Popcorn feiert in der literarischen Welt die Erfolge, die den Kultregisseur Bruce Delamitri in seinem Buch zu Fall bringen. Ein Buch, über das alle Welt redet, und zurecht.

Manhattan 1998, Taschenbuch, DM 20

 

Enrico Remmert: Looove never dies

Zwei Nullen zuviel. Love ist Love, selbst in Italien. Da sind die Jungs zwar cooler und die Mädels heißer, aber die Pubertät dauert auch nicht bis 24. So alt ist die Hauptfigur in Looove never dies. Vittorio ist Student und Partygänger, 24 Jahre jung, Gelegenheitsjobber und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, der ihn mit Alice abhanden gekommen ist. Wiedereinquartiert bei Mammi und Pappi, skurrile Freunde an seiner Seite und mit dem neuen Problem Gulia, die auf der selben Insel gestrandet ist wie er (!?!), kann er wildfremden Leuten die allesentscheidende Frage stellen: „Entschuldigen Sie, aber was hält Sie eigentlich am Leben?" Oder er kann der Apothekersfrau wahnsinnig kryptisch mitteilen, was er möchte: keine Pillen, keine Drogen (die hat er nämlich schon intus), nein: „Schlafen" möchte er, unser Held. Genug! Genug des coolen Gebrabbels eines heranwachsenden Jünglings. Genug der Exzesse und Angebereien der Studenten, die sich vor Selbstsicherheit überschlagen und die sich drum der Autor nicht ironisch zu durchbrechen oder zu kommentieren wagt.

Klappen wir das Buch zu und vergewissern wir uns mit einem Blick auf den Schutzumschlag: Remmert hat für seinen Roman Preise für junge Literatur "Unter 30" eingeheimst. Mit knapp über 30 ist der Autor noch jung. Das und sein Job als Marketingfachmann mögen erklären, warum er seine Nähe zum Sujet so distanzlos ist, daß dem gelernten Soziologen die Genrebilder zu Schablonen gerinnen.  ''Den Roman einer ganzen Generation, vor der das Leben wie ein offenes Buch liegt', habe der  Remmert geschrieben, teilt uns der Verlag mit. 'Ein offenes Buch, aber auf chinesisch.' Wie wahr! Schade nur, daß die meisten Leser – zumindest dieses – Chinesisch nicht verstehen werden. Looove never dies wird begeistern, wer sich seiner Jugend vergewissern will und auf die Buchstabenfolgen – Schlüsselreizen gleich – Saint-Exupéry, Rave und Lebenssinnkrise positiv reagiert. Am besten auf alle, am besten mit Identifikation.

Kunstmann 1998, Fester Einband


November 1998

Benjamin v. Stuckrad-Barre: Soloalbum
Quim Monzó: Das ganze Ausmaß der Tragödie
Tom Zürcher: Högo Sopatis ermittelt

Oktober 1998

Jonathan Coe: Das Haus des Schlafes
Sherman Alexie: Indian Killer
Joseph T. Klempner: Spadafinos Verhängnis
James Hawes: Ein weißer Mercedes mit Heckflossen

September 1998

Larry Baker: Feuerzauber
Fred Beinersdorfer: Das Biest
Petra Würth: Unter Strom
Carl Djerassi: NO
Herbert Rosendorfer: Ungeplante Abgänge

August 1998

John Burdett: Eine private Affaire
David Huggins: Der grosse Kuss
Nicholas Blincoe: Acid Killers
Martin Amis: Interview, 1999 und eine Website
 

Juli 1998

James Lee Burke: Cimarron Rose
Morton Harry Olsen: Die Osiris-Morde
Iain Banks: A Song of Stone
Elmore Leonard: Zuckerschnute
Donna Masini: Alles über Yvonne
James Crumley: Jeder gräbt sein eigenes Grab
Anonymous: Mit aller Macht
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