[ neues im november 1998 ]
November 1998: Der Katalane Quim Monzó hat Das ganze Ausmaß der Tragödie abgesteckt, und sein Buch liegt nun bei btb als Taschenbuch vor.  Der Schweizer Tom Zürcher hat einen köstlichen Erstling auf den Markt gebracht. Der Witzemacher von Stuckrad-Barre hat auch ein Buch geschrieben, ein Soloalbum aus Langeweile.

Benjamin v. Stuckrad-Barre: Soloalbum

Benjamin v. Stuckrad-Barre – und allein solch ein Name ist schon irgendwie Gold wert – Benjamin v. Stuckrad-Barre (ich fühle mich regelrecht gezwungen, ihn zu wiederholen) hat ein Buch geschrieben. Der Roman heißt Soloalbum und ist in der Taschenbuchreihe des Verlages Kiepenheuer & Witsch erschienen, wo man ein Herz für junge Männer hat, die sich ein bißchen langweilen und aus lauter Langeweile ein Buch schreiben, das von ihrer Langeweile handelt. Zumindest auf Christian Kracht und sein sehr schönes Stück Faserland trifft das einigermaßen zu und wahrscheinlich auch auf den Herrn v. Stuckrad-Barre, nur ist das seiner Prosa nicht so sehr anzumerken, weswegen ich Soloalbum auch für das schlechtere Buch, Benjamin v. Stuckrad-Barre aber für den besseren Autor halte. 
Das wollen wir jetzt erstmal sacken lassen.
Der junge Mann, ärgerliche 23 Jahre ist er alt, arbeitet momentan als Witzbold für die Harald-Schmidt-Show. Und wer die ersten Seiten seines Romans gelesen hat, wird sofort kapieren, daß er dort bestimmt für die besseren Scherze verantwortlich ist. Denn schreiben kann er ohne Frage ziemlich gut, und wie gern würde ich hier einen Punkt setzen und nach Hause gehen; wenn, ja wenn die Sache mit dem Inhalt nicht wäre; ich fürchte einfach, daß die Geschichte des Ich-Erzählers außer den Autor und seinen gewiß riesigen Freundeskreis keine Seele weiter interessiert, VIVA-Gucker vielleicht ausgenommen, aber die lesen ja bekanntlich nicht. 

Die Grundidee der Story ist schön und zeitlos: Junge wird von Mädchen verlassen und merkt, daß er, was er früher nicht wahrhaben wollte, doch noch sehr an ihr hängt, wenn ich so banal sagen darf. Zweihundertvierzig Seiten hat er Zeit, sie sich aus dem Kopf zu schlagen. Dabei unterstützen ihn Parties, andere schöne Mädchen, Alkohol und was man sonst noch so zu sich nehmen kann und vor allem Musik. Der Autor legt bei Lesungen gerne Platten auf, und diese Veranstaltungen sollen ein besonderes Erlebnis sein, was ich gerne glauben will, weil die Platten, die der Ich-Erzähler im Buch spielt, fast alle wirklich gut sind. Das Problem ist bloß, daß der Roman in einer Szene angesiedelt ist, die außer H & M kaum Fixpunkte kennt und der morgen schon wieder scheißegal ist, was sie gestern gedacht hat. Das ist immer so gewesen, jedenfalls seit den Achtzigern, insofern gibt's da auch gar nix zu kritisieren. Junge Leute sind eben schrecklich uninteressant! Außer für andere junge Leute natürlich. Sie sind Teil eines Selbstexperiments, dessen Versuchsanordnung sich täglich ändert. Und so ist der Roman alles – nur eben nicht zeitlos wie sein Plot!
Was weiß denn der alte Sack?! Ich kaufe mir das Buch jetzt erst recht! Das ist eine denkbare Reaktion auf diese kleine Besprechung hier und, ehrlich gesagt, nicht die schlechteste. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn Benjamin von Stuckrad-Barre viele Bücher verkaufen würde, damit er Zeit hat für einen richtig feinen Roman. 

Matthias Wegener.

Pscr.: Kürzlich hat das Magazin jetzt der Süddeutschen Zeitung (immer montags) einige berühmte und viele unberühmte Leute aufgefordert eine Zeitlang Tagebuch zu führen. Darunter, man ahnt es bereits, auch unser Freund Benjamin v. Stuckrad-Barre, den ich vor fünf Minuten noch für seinen Musikgeschmack gelobt habe. Unverhohlen bekennt sich der Mann da zu den Spice-Girls. Hat man dafür noch Worte? Die singen nicht nur schauderhaftes Zeug zusammen, nein, jeder weiß doch inzwischen, daß das Interessanteste an der Mädchenband David Beckham ist!

Kiepenheuer & Witsch 1998, Taschenbuch, DM 16,90

Quim Monzó: Das ganze Ausmaß der Tragödie

Der Trompeter des Orchesters, Ramon-Maria, himmelt die Seiltänzerin Maria-Eugènia an. Beim ersten Rendevous ist er so nervös, daß er sich betrinkt. Später, bei ihr zu Hause, überwiegt die Trunkenheit durch Alkohol die Trunkenheit der Begierde: seine Schwäche als Mann beschämt ihn derart – er begehrt sie doch! ja, zum Teufel –, daß er die Gerechtigkeit des Laufs der Dinge in Frage stellt und den Teufel um Hilfe bittet. Der beschert ihm eine Dauererektion, die das ganze Buch lang anzuhalten droht. Ramon-Maria ist zunächst entzückt über die neuen Möglichkeiten, und auch die Frauen staunen über seine unnachahmlichen Fähigkeiten der dauerhaften Befriedigung. Die Freude weicht der Irritation und die weicht der wachsenden Sorge.

Ramon-Marias Stieftochter Anna-Francesca bekommt nichts von alledem mit, denn die beiden liegen im tiefen Klinch, genauer: sie hassen sich, wobei der Haß Anna-Francescas überwiegt. Sie prüft alle Möglichkeiten, ihren unsympathischen und trägen Stiefvater aus der Welt zu schaffen. Je verworrener ihre ersten Liebeserfahrungen werden, um so dringlicher wird ihr Wunsch, das erzwungene Zusammenwohnen mit Ramon-Maria zu beenden. Und so nimmt Das ganze Ausmaß der Tragödie seinen Lauf.

Quim Monzó ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. In seiner Heimat Katalanien zählt er zu recht zu den ganz Großen. Seine unkomplizierte Art zu erzählen nimmt den Leser gefangen, seine schlichte Sprache – eingängig, upretentiös und doch ein wenig manieriert – verzaubert und lockt auf unbekanntes Terrain mit undurchschaubaren Figuren, die sich scheinbar im asozialen Raum bewegen; die Koordinaten sind verzerrt, und sie verschieben sich langsam im Laufe der Erzählung. Monzó erzählt in Das ganze Ausmaß der Tragödie nicht eine Geschichte: er erzählt eine Vielzahl kleiner Begebenheiten, Anekdoten, Assoziationen. Das beherrscht er, darin ist er ein Meister, wie sein Kurzgeschichtenbändchen Der Grund der Dinge zeigt. Doch in Das ganze Ausmaß der Tragödie entgleiten ihm die Fäden, aus denen sich ein Netz einer Geschichte weben ließe, und die Enden hängen am Buchende unvermittelt im Raum. Die Lektüre beendet, klappt der Leser das Buch zu: Recht gut unterhalten, doch ratlos findet er sich zurückgelassen. Und er ist darüber ein bißchen enttäuscht und traurig, denn Quim Monzó zählt zu den Großen. 

btb, Taschenbuch 1998, DM 15

 

Tom Zürcher: Högo Sopatis ermittelt

Högo Sopatis heißt unser Held. In Wirklichkeit hat er gar nicht solch einen hübschen griechischen Namen. Und die Wirklichkeit ist auch gar nicht so prosaisch, wie das Buch klingt. Aber lustig ist sie, verdammt lustig, mit Kalauern & Klamauk gespickt und schrecklich aufregend und auf Schweizerisch. Högo Sopatis ist nämlich Privatdetektiv. Detektive führen bekanntlich ein wahnsinnig aufregendes Leben. So auch unser Högo Sopatis. Der heißt in Wirklichkeit Werner und ist von der Arbeitslosigkeit, die er einer disrespekierlichen Bemerkung zum Chef der Schweizer Tosch-Werke sich eingeheimst hat, geradewegs in die Freiheit entlassen, die Freiheit, privat zu ermitteln. Und wie er ermittelt! Högo nistet sich in einem gammeligen Kleinstbüro ein, engagiert eine zackige Vorzimmerdame und lebt in seinem trendy Trenchcoat. Ein echter Detektiv also, der einen echten Fall aufliest. Sein durchgeknallter Psychiater verspricht sein Erbe, sollte Högo seinen wahren Mörder finden. Den, der den Psy im Aquarium ertränkte. Die Auswahl ist groß: da ist seine Ex, eine karrierebewußte Stewardess; ihr Lover, ein Swiss-Air-Pilot; der begabte Aussteigersohn Max der Stewardess; Chlapf Heiri und viele düstere Gestalten, die es noch zu enttarnen gibt. Derweil hat Högo Sopatis aber weitere Probleme: Geldsorgen und Wohnungsnöte, Freund Pauserman und den ehemaligen Chef von Tosch, Herrn Gorfbabel. 

Högo Sopatis ist ein Genie, denn er versteht es – wie sein Schöpfer Tom Zürcher – alles mit allem zu verbinden und am Ende des Buches wahre Gerechtigkeit walten zu lassen. Die Purzelbäume und Verdrehungen, die Högo mitmachen muß, um die Schweiz zu einer besseren Welt zu machen und die großen Schurken zu besiegen, pendeln zwischen kauzigen Kapriolen und purem Slapstick hin und her. Und könnte Tom Zürcher, den wir zu einem Erstling aufs herzlichste beglückwünschen!, nicht so verdammt gut schreiben: wir Leser hätten den Fall schon lange zu den Akten gelegt und seinem Kunsthelden einen schönen Tag gewünscht. Denn der Herr Sopatis versteht so wenig von Detektivarbeit wie Blinde von der Farbe. Das macht ihn charmant, und das kann erst das wundersames Korsett für hübsche Anekdoten und Einfälle abgeben, die sonst im Ernst der Erzählungen und der Charaktere ertrinken würden. So aber haben unsere Lachmuskeln kaum Gelegenheit, sich zu entspannen. Das Buch ist wild und schnell und komisch – und verflucht lustig. 

Eichborn 1998, fester Einband, DM 32

-> Leseprobe 


Oktober 1998

Jonathan Coe: Das Haus des Schlafes
Sherman Alexie: Indian Killer
Joseph T. Klempner: Spadafinos Verhängnis
James Hawes: Ein weißer Mercedes mit Heckflossen

September 1998

Larry Baker: Feuerzauber
Fred Beinersdorfer: Das Biest
Petra Würth: Unter Strom
Carl Djerassi: NO
Herbert Rosendorfer: Ungeplante Abgänge

August 1998

John Burdett: Eine private Affaire
David Huggins: Der grosse Kuss
Nicholas Blincoe: Acid Killers
Martin Amis: Interview, 1999 und eine Website
 

Juli 1998

James Lee Burke: Cimarron Rose
Morton Harry Olsen: Die Osiris-Morde
Iain Banks: A Song of Stone
Elmore Leonard: Zuckerschnute
Donna Masini: Alles über Yvonne
James Crumley: Jeder gräbt sein eigenes Grab
Anonymous: Mit aller Macht
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