[ Mai 2000 ]
Krimis und Thriller: was der Buchmarkt hergibt. In unserem Mai-Paket werden Sie mit Aurora nach Russland entführt, begegnen unserem alten Bekannten Dave Robicheaux, treffen auf korrupte Spekulanten, farbige Fahrstuhlinspektoren, eine lesbische Mordkommisarin, eine Schlangenzüchterin und dürfen der Jungjournalistin Sunny über die Schulter schauen – sofern Sie unseren Empfehlungen folgen.

Colson Whitehead: Die Fahrstuhlinspektorin

Sie ist die erste Farbige, und sie ist Intuitionalistin. Fahrstuhlinspektorin Lila Mae hat einen schweren Stand bei ihren weißen männlichen Kollegen, die mehrheitlich Empiriker und Träger des Sicherheitshaarschnitts sind. Fehldiagnosen kann sich Lila Mae nicht leisten, und sie kommen nicht vor.
Ihre Routine-Checks der Fahrstühle enden mit nüchternen Diagnosen: „Ich werde Sie wegen eines fehlerhaften Übergeschwindigkeitsregelers zur Verantwortung ziehen müssen", bescheidet sich den Hausmeister. Der ist äußerst empört, hat Lila Mae weder einen Blick in den Fahrstuhlschacht geworfen noch sein Bestechungsgeld wirken lassen. Sie hat einzig dem Brummen und Surren des metallenen Kiste nachgespürt. Intuition, Gefühl, Liebe zu den Fahrstühlen. Lila Maes Fehlerquote ist gering. 

Ein Problem taucht jedoch auf: Einer der von ihr geprüften Fahrstühle stürzt ab, im total freien Fall, eine theoretische Unmöglichkeit. Wenn Lila Mae sich der Vorwürfe entledigen will, muss sie aufklären, wer hinter dem Tod des Fahrstuhls steckt. Wird sie als Figur im Kampf von Empiriker gegen Intuitionisten bei der Wahl zums Chefs der Behörde für Fahrstuhlinspektion missbraucht? Warum wollen die Jünger des Intuitionalismus-Erfinder James Fulton sich ihrer Gunst versichern? Welche Rolle spielt das Institut für vertikalen Transport? Was enthüllen Reporter der Zeitschrift Lift? – Lila Mae ist eine wortkarge, tuffe schwarze Frau; sie lässt sich weder von Mafiadrohungen noch Fahrstuhlherstellern einschüchtern und forscht auf eigene Faust nach. 

Hinter der mit Erinnerung verschnittenen Kriminalhandlung verbirgt sich ein Roman über Rassenfragen und über den Unterschied zwischen Schwarzen und Weißen. Die Protagonisten Lila Mae Watson stützt sich auf das Wissen ihrer Vorfahren, und damit kann sie die Welt (der Fahrstühle) nicht nur besser verstehen als viele Weiße, sondern auch ein Stück gerechter machen. Colson Whitehead hat ein sensibles und fantasiereiches – wenn auch leider stellenweise über Rassenfragen belehrendes und überernstes – Plädoyer gegen die Versachlichung der kühlen Großstadtwelt geschrieben. Eine Mischung aus Allegorie uns Analyse, aus dem Fluss der Fantasie und physikalischen Gesetzen, die nach der Lektüre ein eigentümlich=angenehmes Gefühl von fremder Wärme hinterlassen. Und ein bisschen das Gefühl, die eigenen Vorurteile weiter pflegen zu dürfen, mit Erlaubnis des farbigen Autors: Schwarze sind einfühlsamer und intuitiver, Weiße handeln strikt logisch und kühl-rational. 

Hoffmann und Campe 2000, Hardcover DM 39,90 
ISBN 3-455-07892-3

Robert Harris: Aurora

Fatherland, Robert Harris Erstling, war zweifellos das stärkste Buch, das Fiktion und Fakten über das NS-Regime gekonnt vermischte. So gekonnt, dass die Mischung aus Thriller und Fantasiereise in das Deutschland der 60er Jahre nach dem Sieg Hitlers über die Alliierten eindringlicher als viele Geschichtsbücher die Schrecken der Nazi-Herrschaft vor Augen führte. Nun liegt mit Aurora Harris dritter Thriller vor, der, wenn auch schwächer als Fatherland und Enigma, den gleichen Kunstgriff erfolgreich einsetzt: Im heutigen Russland wird der britischer Historiker und Stalin-Experte Fluke Kelso auf die Spur geheimer Hinterlassenschaften Stalins gesetzt. Der 1953 verstorbene Diktator soll Brisantes dokumentiert haben, und ein Zeuge der Aufzeichnungen wird bald grausam ermordet aufgefunden. Obwohl Russland-Kenner, ahnt Fluke nicht, wen er mit seinen Recherchen aufweckt: den amerikanischen Journalisten O’Brian, Ex-KGB-Bosse und die Spionageabwehr zum Beispiel, denen sein Leben ziemlich schnuppe ist. Und alle wollen sie nur eines: Stalins Nachlass finden, und als sie ihn finden, sind alle entsetzt über die bestialische Kraft, die dieser Nachlass freisetzt.

Was wie ein reißerischer Thriller daherkommt, ist auch ein Portrait des zerfallenen Sowjet-Imeriums und ein Spiel mit der Frage: Was wäre, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre? Was wäre, wenn Stalin seine Gedanken weitergegeben hat? Was wäre, wenn seine Ideen, seine Exekutionen, sein Wahn in anderen fortlebte?

Robert Harris Thriller zeichnen sich aus durch glaubwürdige Charaktere, die er auf der Folie der Mischung aus Fakt und Fiktion agieren lässt; vor allem aber glänzen Harris Thriller durch die scharfen, prägnanten Analysen der Gesellschaft und politischer, historischer und sozialer Ereignisse.

Heyne Taschenbuch 2000 (1998), DM 16,90
ISBN 3-453-16078-9

James Lee Burke: Black Cherry Blues

Glaubwürdig tough und trocken, so kennen wir Dave Robicheaux, den Ex-Polizist mit einem geschärften Sinn für Gerechtigkeit, der im Bayou-Hinterland lebt und am liebsten seine Ruhe hätte: vor Alkohol, vor der Vergangenheit, vor Verbrechen. Doch James Lee Burke ließ den Helden erst mit der Geburt seines neuen Protagonisten Billy Bob Holland in Ruhe sein Leben ordnen; zuvor hatte der seltsam=sympathische Dave Robicheaux alle Hände voll zu tun. 

In Black Cherry Blues, einem der bewegtesten und fremdartigesten Bücher aus der Reihe, sieht sich Robicheaux mit Mauscheleien einer Ölfirma, Bedrohungen seiner Adoptivtochter Alafair und einer Mordanklage konfrontiert. Um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, muss er den Spuren seines alten Bekannten Dixie Pugh nach Montana folgen. – Jeder Robicheaux-Band ist eine erstklassige Lektüre!

Ullstein (Gelbe Reihe), Taschenbuch 1998 (1989), DM 16.90
ISBN 3-548-24266-9

 

Nina George: Kein Sex, kein Bier und jede Menge Tote

Ein deutscher Krimi, der genau hält, was der Titel verspricht: Ihr Job als Journalistin lässt die 21jährige Sunny über Verbrechen und Verbrecher stolpern, und da sie jung, ehrgeizig und – einigermaßen – clever ist, recherchiert sie, was das Zeug hält. Schlafen kann sie nicht, saufen kann sie nicht, Sex haben kann sie nicht, dafür aber als Ich-Erzählerin des Erstlings von Nina George ihre Geschichte locker und amüsant verpacken. Zum Beispiel die Geschichte mit dem verschwundenen Geheimagenten, der sie nicht mehr aus den Augen lässt – am Anfang stand er, der geheime Topagent, den im Auftrag ihres Blättchens übers Wochenende unterhalten sollte – oder die von ihrer Entführung, als sie den grauen Hintermännern des Finanzbetrugs und Medienpokers auf die Schliche kommt. 

Ein ausgesprochen netter Krimi, der einem die Mundwinkel eh man sich versieht nach oben biegt. Wunderbarer Wortwitz, spritzige Sprachspiele. Leider so lange – über 330 Seiten nämlich –, dass wir mehr Freude an einem knapperen und somit knackigerem Werk gehabt hätten.

Droemer Knaur, fester Einband 1999, DM 29.90
ISBN 3-426-19521-6

Stephen Frey: Die Spekulanten

Ein packender Thriller, der die perfekte Vorlage für einen Film abgibt; die Story: Mace McLain, überaus erfolgreicher Investmentbanker in N.Y., soll Immobilien für einen milliardenschweren Spezialfond auskundschaften. Er bleibt – zusammen mit seinem jungen Schwarm und Nachwuchstalent Rachel Sommers – der einzig Naiv=Unwissende in dem großen Spiel der Finanzpoker: Die Führungsebene von Walker Pryce besteht aus (deswegen korrupten) Steuerbetrügern; dem Vize-Präsidenten fehlt Geld für den Wahlkampf; sein Wahlherausforderer und CIA-Chef muss die Ausgaben für seine Spezialtruppe erklären; Mace McLains wunderhübsche Kollegin Kathleen Hunt ist wahrlich kein Püppchen und sein Freund Slade ein wesentlich härterer Kerl, als Mace bislang ahnte. – Frey bindet diese Elemente gekonnt und so bilderreich zusammen, dass sie sich tief in die Netzhaut einbrennen. Wir sind sicher: der Film wird ein Meisterwerk!

Die Spekulanten ist spannend bis zur letzten Seite, ein Thriller mit allem, was wir darin finden wollen, von der großen Verschwörung bis zur großen Liebe. 

Ullstein, Taschenbuch 2000, DM 14.90
ISBN 3-548-24905-1

Barbara Block: Schwarze Witwen küßt man nicht

Mit ihrer Namensvetterin Bela teilt Barbara Block die Vorliebe für Kriminalfälle – da enden aber auch die Gemeinsamkeiten. Denn Robin Light, Protagonistin in Barbara Blocks amerikanischem Krimi, ist exotischer als ihre TV-Kollegin: sie führt eine Reptilienhandlung, ist forsch und kett und stößt bei einem Ausflug mit ihrer besten Freundin Lynn auf die Leiche deren Ex-Lovers. Lynn steht unter Mordverdacht, und Robin lebt in der Nähe ihrer Busenfreundin gefährlicher als im Kreise ihrer Reptilien.

Econ & List, Taschenbuch 1998 DM 16,90
ISBN 3-612-25188-0

Maria Gronau: Weiberlust

Die Texte von Werbetextern klingen meist gekünstelt; nicht so der Kriminalroman der Werbechefin Maria Gronau. Den lässt sie in Berlin spielen, wo die lesbische Lena Wertebach –  der Name wohl ein Gruß an Lena Odenthal alias Ulrike Folkerts –, ihres Zeichens Leiterin der Mordkommission, von zwei enthaupteten Kinderleichen aus ihrem Alltagstrott und ihrer frischen Verliebtheit in eine Studentin gerissen wird. Steckt die Zigarettenmafia hinter den Morden? Wer steckt im Ostberliner Sumpf mit wem unter einer Decke? Lena Wertebach hat ihre Mühe, das zu beweisen und den Killer aus der Reserve zu locken. 

Fischer, Taschenbuch 1999, DM ^6.90
ISBN 3-596-12012-9


April 2000

James Hawes: Dead long enough
Theodore Roszack: Flicker
Markus Seidel: Freischwimmer

März 2000

David Huggins: Luxury Amnesia
Liza Cody: Monkey Wrench
Liza Cody: Musclebound
John O’Farrell: Things can only get better

Januar 2000

Thorsten Tornow: Tod eines Trebers
Wolfgang Herles: Fusion
Manfred Wieninger: Der dreizehnte Mann
John LeCarré: Agent in eigener Sache
Jonathan Latimers hard-boiled-Held William Crane

November 1999

Wolfgang Schweiger: Kein Job für eine Dame
Antonio Tabucchi: Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro
Ernst Weiß: Der armen Verschwender

Oktober 1999

Bill Fitzhughes: Der Kammerjäger
Pop!
Von Wahn & Tod: Weimarer Wahn, Nacht in Havanna, Pomeroy, Sau tot

September 1999

Christoph Peters: Stadt Land Fluß
Marcus Braun: Delhi
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