[ september 1999 ]
Unser Autor Ralf Hertel schreibt über Christoph Peters Stadt Land Fluß und Marcus Brauns Delhi.
 

Spielverderber

Ralf Hertel über Christoph Peters Erstlingsroman Stadt Land Fluß

Jeder kennt das Spiel: Einer gibt einen Buchstaben vor, und dann versuchen alle Mitspieler möglichst schnell eine Stadt, ein Land und einen Fluß zu finden, deren Namen mit diesem Buchstaben beginnen. Stadt Land Fluß, sprich: Stadtlandfluß eben. Es ist ein Spiel, welches vor allem Kinder immer dann gerne spielen, wenn ihnen langweilig ist, etwa auf einer langen Autofahrt in den Sommerurlaub mit den Eltern. Auch Christoph Peters spielt in seinem gleichnamigen Erstlingsroman dieses Spiel, jedoch ohne sich dabei an die Regeln zu halten. Die Stadt heißt Köln, der Fluß Rhein, und ein kleines bäuerliches Kaff mit dem Namen Niel steht für das Ländliche. Sie sind die Koordinaten, zwischen denen sich das erzählerische Spiel von der großen Liebe, die vielleicht angesichts der Bedrohung durch den Tod gar nicht so groß ist, entfaltet.

Stadt: Das ist Köln. Es ist der Ort, an dem sich der Ich-Erzähler Thomas Walkenbach, ein 22jähriger Student der Kunstgeschichte, in die fünf Jahre ältere Hanna Martinek verliebt. Hanna ist Zahnärztin und arbeitet in der Praxis ihres Vaters. Im Wartezimmer verdeckt ein kränklicher Ficus das "Bild eines unbekannten Meisters, der sich als Kandinsky versucht hatte", auf dem Tisch liegt ein zerlesenes "Weltbild"-Heft und auch Hanna ist nicht gerade das, was man sich als atemberaubend vorstellt: "ein schlicht gekleidetes Mädchen (...), ungeschminkt, die halblangen Haare nachlässig am Hinterkopf zusammengesteckt, das sich artig vorstellte und (...) etwas linkisch die Hand gab." Knapp 200 Seiten und elf Jahre später hat sie sich kein bißchen verändert. Pünktlich geht sie in die Praxis, pünktlich kommt sie wieder zurück, stets fleißig um Vaters Anerkennung bemüht. Gründlich ist sie bei der Arbeit und der Liebe, spontane Gefühlsausbrüche sind ihr fremd und ihr Lieblingsspruch lautet: "Ich rege mich erst auf, wenn ich Grund dazu habe." Wie sich Thomas Walkenbach in sie verlieben konnte, wird das Geheimnis des Autors bleiben.

Land: Das ist Niel, für kurze Zeit auch die italienische Landschaft um das kleine Dorf Pallerone. Das sind für Hanna und Thomas Rückzugsorte aus dem alltäglichen Trott zwischen Amalgamfüllungen und der Magisterarbeit über die spätgotische Schnitzkunst Douwermans. Das sind Rückzugsorte, die nur so aussehen, als wären sie welche. Die Besuche bei Thomas’ Eltern in Niel werden zum unausweichlichen Ritual, an dem zumindest er keinen emotionalen Anteil nimmt. Und selbst Italien, der Ort, der so vielen Licht, Luft und Liebe bedeutete, verkommt zu einem zweiten Niel, nur daß man hier Italienisch spricht. Alles ist da: die Deichmauer, die Barockkirche, der Supermarkt, das Schnellrestaurant, die Tankstelle mit angeschlossener Werkstatt. Auf das große Glück in der Beziehung von Thomas und Hanna wartet man auch hier vergebens. Und wenn Thomas rückblickend davon spricht, hört sich das an, als mißtraue er seinen eigenen Worten: "Damals in Pallerone, glaube ich, sind wir das gewesen, was man glücklich nennt."

Fluß: Das ist zunächst einmal der Rhein. Gemächlich fließt er durch Köln und an Niel vorbei. Bildlich steht er für Peters Erzähltechnik: Langsam und behäbig fließt der stream of consciousness, der seichte Erzählstrom dahin zwischen den Ufern der Kunstgeschichte und einem ereignislosen Leben. Bis sich dann doch etwas ereignet: Hanna hat Krebs und wird daran sterben. Seltsamerweise verändert sich das Leben der beiden aber dadurch kaum. Sie geht nach wie vor von früh bis spät abends arbeiten, während er gedankenverloren über seiner Magisterarbeit sitzt. Morgens gibt sie ihm einen Abschiedskuß, abends ist Hanna müde, dann kocht er für sie Spaghetti, dann gehen sie einmal ins Kino, zwischendurch wird ihr eine Brust abgenommen. Alles nicht sehr glaubwürdig.
Es ist keine große Geschichte, die Peters erzählt. Zwei Menschen finden zusammen, der eine stirbt, der andere trauert. So war es seit Menschengedenken, und so wird es immer sein. Zugleich aber wäre es der Stoff zu einer der größten Geschichten der Menschheit: die Möglichkeit der Liebe im Angesicht des Todes. Philemon und Baukis haben es vorgemacht: Als die Götter übereingekommen waren, die Welt durch eine Sintflut zu vernichten, beschlossen sie, zu prüfen, ob es Menschen gäbe, die des Überlebens wert wären. Nur das alte Bauernpaar schien ihnen würdig. Sie gewährten ihnen einen Wunsch, und Philemon und Baukis wünschten sich: Zusammen sterben wollten sie, gleichzeitig, damit keiner über des anderen Tod trauern müsse. Peters zitiert diese so einfache wie bewegende Geschichte. Doch bleibt sie Zitat. Nicht nur, weil Thomas nicht mit Hanna in den Tod geht, sondern vor allem, weil ihre Liebe blaß bleibt, so blaß wie Hanna als Figur. So verliert schließlich auch ihr Tod das Ungeheuerliche und mithin das Buch seine Spannung.

Vielleicht ist es eben das: daß Peters nur zitiert, wo sich doch ein Horizont öffnen könnte. Stadt Land Fluß gaukelt etwas hinter der Erzählung Liegendes vor, eine tiefere Wahrheit oder ein über das Individuum hinausgehendes Schicksal, das sich aber im Text dann nicht finden läßt. Vielleicht liegt das in Thomas’ Geistesverfassung begründet, der verzweifelt in Parallelen von der Antike über die Bibel bis hin zum spätgotischen Wurzelschnitzer Douwerman nach einem Sinn in Hannas Krebstod sucht. Vielleicht aber auch darin, daß Peters es sich nicht zutraut, einfach eine Geschichte zu erzählen, ohne Zuhilfenahme diverser mythischer Versatzstücke. Das ist so schade wie störend, denn auf diese Weise wirkt der Text wie eine amorphe Zitatenmasse, der sich nur widerwillig lesen läßt.

Nun will der Text vielleicht genau das sein: Ein Spiegelbild der unzusammenhängenden, assoziativen Gedankengängen dessen, dem die Geliebte gestorben ist. Doch ein Zitieren um des reinen Zitieren willen ist ein wenig mager, selbst um eine kleine Geschichte von der großen Liebe zu erzählen. Wie schön hätten sich die Zitate zu einer weiteren, die Liebe Hannas und Thomas’ reflektierenden Metaebene verbinden können, wie viel hätte das Buch durch eine Spiegelung der beiden etwa in Orpheus und Euridyke, oder selbst Douwerman und seiner Schwägerin gewinnen können, hätte Peters den Mut gehabt, nur eines der Motive durchzuhalten. Ein Mosaik der Liebe im Angesicht des Todes, ein Bild des ewigen Wettstreits von Eros und Thanatos hätte sich ergeben können. Statt dessen muß der Leser mit einzelnen Mosaiksteinchen vorliebnehmen und enttäuscht feststellen, daß diese sich nicht zu einem Bild fügen wollen. Für eine Studie ist das Buch zu zerfahren, für eine Geschichte nicht glaubwürdig genug. So wie Peters Stadt, Land und Fluß nicht zu einem einzigen Buchstaben finden kann, so kann er sich auch leider nicht darauf festlegen, ob er eine oder mehrere Geschichten erzählen möchte. So aber kann das Spielchen die Langeweile nicht vertreiben.

Christoph Peters, Stadt Land Fluß. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1999. Gebunden, 38 DM

Das Leben ein Alptraum

Marcus Braun versucht sich als deutscher Surrealist

von Ralph Hertel

Marcus Braun muß ein frustrierter Mensch sein. Da hat er über drei Jahre lang an seinem Debüt Delhi gearbeitet, und dann hat man das schmale Büchlein vom jungen Architekten Goester, der in ein Mordkomplott am indischen Hinduführer Raj Kethra hineinstolpert, innerhalb von einem Abend gelesen. Vielleicht tröstet es ihn jedoch, daß man es in der kurzen Zeit nicht verstanden hat; es ist ein Buch, das mehrmals gelesen werden will. Und abgesehen davon läßt sich ja auch nicht mit Sicherheit sagen, ob Braun tatsächlich drei Jahre an Delhi geschrieben hat. Zwar gibt er das im Text selbst an, doch merkt man bei der Lektüre sehr schnell, daß man es hier mit einem Erzähler zu tun hat, dem man nicht trauen kann.

Das zeigt sich an kleinen Einzelheiten: Wie etwa kommt es, daß in Indien alle – vom Taxifahrer über den Besitzer eines Kopiergeschäfts bis hin zum Angestellten der amerikanischen Botschaft – deutsch sprechen? Beinahe möchte man meinen, daß die Geschichte, die uns Braun erzählt, nicht wirklich in Indien spielt, wie sie vorgibt, sondern vielmehr ein Traum ihres Protagonisten ist. Dementsprechend traumhaft ist auch die Logik des Buchs. Wie schillernde Seifenblasen steigen Erlebnisse, Geschehnisse oder auch nur vorgestellte Geschehnisse auf, um dann kurz darauf als trügerische Fiktionen zu zerplatzen. So denkt Goester während einer Unterhaltung über die sexuellen Vorzüge junger Mulatinnen an "seine Frau, die er endlos mit dem Finger penetrieren mußte", nur um drei Sätze später vom Erzähler widerlegt zu werden: "Er war gar nicht verheiratet." Wem soll man trauen: dem Erzähler oder seinen Erfindungen?

Marcus Braun spielt: mit dem Leser, mit erzählerischen Formen, mit seiner eigenen Rolle als Autor. Manchmal spielt er auch mit Worten, was ihm aber mitunter nicht so gut gelingen will. Dann unterlaufen ihm Sätze, die schon etwas nach Kalauer riechen, wie etwa: "Die Pistole war das erste, was Goester durch den Kopf schoß – er bemerkte nichts von der Subtilität des Gedankens, der ihn unter anderen Umständen garantiert zu einem Lächeln genötigt hätte." Ansonsten aber ist er ein überaus versierter Spieler, der die Regeln gut genug kennt, um sie zu brechen. Da hat sich die Literaturwissenschaft gerade mühsam daran gewöhnt, zwischen Autor, Erzähler und Charakteren zu unterscheiden, da wirft Braun diese Grenzen schon wieder über den Haufen. Immer wieder pfuscht der Erzähler seinem Protagonisten ins Handwerk und legt ihm Sätze in den Mund, über die dieser sich selbst nur wundern kann. Andererseits steht der Erzähler auch keineswegs auktorial über seinen Romanfiguren. Kaum haben wir davon gelesen, wie die blonde Killerin Sophie als Edelprostituierte das Hotelzimmer eines indischen Baulöwen betritt, kühl sein Gesicht mit einer Photographie vergleicht, um ihn dann kaltblütig zu erschießenden, da überlegt sich Goester, der mit der Mörderin im gleichen Flugzeug nach Indien fliegt, ob es nicht "geschickter gewesen" wäre, "erst zu beginnen, nachdem der Schuß gefallen ist."

Brauns Verwirrungstaktik ist natürlich an sich nichts Neues, und das Buch will uns das auch gar nicht weismachen. Freimütig nennt der Autor seine literarischen Vorbilder, wenn er vom phantasierenden Chatwin spricht oder Nabokov kaum verhüllt als "Fluginsektenforscher", der außerdem Schachaufgaben erstelle, auftreten läßt. Die deutlichsten Spuren aber hinterläßt der Surrealist Cortázar. Wie sein argentinisches Vorbild geht Braun in Delhi an die Grenze der Logik, spiegelt eine eindeutige Handlung nur vor. Immer wieder täuscht er den Leser, verunsichert ihn., indem er bereits Gesagtes widerruft.

In seiner Verwirrung aber schlüpft der Leser, ohne daß er sich dessen bewußt wäre, unmerklich Stück um Stück in die Rolle des Protagonisten selbst. So orientierungslos wie Goester durch die von Menschenmassen, Hundekot, brütender Hitze und unverständlichem Lärm angefüllten Gassen Delhis irrt, treibt auch der Leser durch das Labyrinth von rauschhaften Erzählsequenzen. Und nach jedem dieser Braun’schen Phantasietrips teilt er mit Goester das Gefühl der Unsicherheit nach dem Aufwachen: "Er erinnerte alles. Aber wo hatte der Traum begonnen?" Wir lesen das Buch wie Goester die Welt, und die unzähligen Karten, von denen Goester besessen zu sein scheint, sind nichts anderes als die immer neuen Kartierungen unserer eigenen Phantasie.

Berlin Verlag 1999, fester Einband, 29,80 DM


August 1999

Mitchell Smith: Reprisal

Juli 1999

Holly-Jane Rehlens: Mazel Tov in Las Vegas
Jay McInerney: Letzter Schrei

Juni 1999

Michael Chabon: Wonder Boys
Rupert Thomson: Soft
Jim Dodge: Not fade away

April 1999

Harold Nebenzal: Der Löwenkult
Elisabeth George: Im Angesicht des Feindes
Jean-Pierre Gattégno: Schnee auf den Gräbern

März 1999

Scott Smith: Ein ganz einfacher Plan
Georg M. Oswald: Lichtenbergs Fall
Zachary Klein: Die Lebenden und die Toten