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Spielverderber
Ralf Hertel über Christoph Peters Erstlingsroman
Stadt
Land Fluß
Jeder kennt das Spiel: Einer gibt einen Buchstaben vor, und dann versuchen
alle Mitspieler möglichst schnell eine Stadt, ein Land und einen Fluß
zu finden, deren Namen mit diesem Buchstaben beginnen. Stadt Land Fluß,
sprich: Stadtlandfluß eben. Es ist ein Spiel, welches vor allem Kinder
immer dann gerne spielen, wenn ihnen langweilig ist, etwa auf einer langen
Autofahrt in den Sommerurlaub mit den Eltern. Auch Christoph Peters spielt
in seinem gleichnamigen Erstlingsroman dieses Spiel, jedoch ohne sich dabei
an die Regeln zu halten. Die Stadt heißt Köln, der Fluß
Rhein, und ein kleines bäuerliches Kaff mit dem Namen Niel steht für
das Ländliche. Sie sind die Koordinaten, zwischen denen sich das erzählerische
Spiel von der großen Liebe, die vielleicht angesichts der Bedrohung
durch den Tod gar nicht so groß ist, entfaltet.
Stadt: Das ist Köln. Es ist der Ort, an dem sich der Ich-Erzähler
Thomas Walkenbach, ein 22jähriger Student der Kunstgeschichte, in
die fünf Jahre ältere Hanna Martinek verliebt. Hanna ist Zahnärztin
und arbeitet in der Praxis ihres Vaters. Im Wartezimmer verdeckt ein kränklicher
Ficus das "Bild eines unbekannten Meisters, der sich als Kandinsky versucht
hatte", auf dem Tisch liegt ein zerlesenes "Weltbild"-Heft und auch
Hanna ist nicht gerade das, was man sich als atemberaubend vorstellt: "ein
schlicht gekleidetes Mädchen (...), ungeschminkt, die halblangen Haare
nachlässig am Hinterkopf zusammengesteckt, das sich artig vorstellte
und (...) etwas linkisch die Hand gab." Knapp 200 Seiten und elf Jahre
später hat sie sich kein bißchen verändert. Pünktlich
geht sie in die Praxis, pünktlich kommt sie wieder zurück, stets
fleißig um Vaters Anerkennung bemüht. Gründlich ist sie
bei der Arbeit und der Liebe, spontane Gefühlsausbrüche sind
ihr fremd und ihr Lieblingsspruch lautet: "Ich rege mich erst auf, wenn
ich Grund dazu habe." Wie sich Thomas Walkenbach in sie verlieben konnte,
wird das Geheimnis des Autors bleiben.
Land: Das ist Niel, für kurze Zeit auch die italienische
Landschaft um das kleine Dorf Pallerone. Das sind für Hanna und Thomas
Rückzugsorte aus dem alltäglichen Trott zwischen Amalgamfüllungen
und der Magisterarbeit über die spätgotische Schnitzkunst Douwermans.
Das sind Rückzugsorte, die nur so aussehen, als wären sie welche.
Die Besuche bei Thomas’ Eltern in Niel werden zum unausweichlichen Ritual,
an dem zumindest er keinen emotionalen Anteil nimmt. Und selbst Italien,
der Ort, der so vielen Licht, Luft und Liebe bedeutete, verkommt zu einem
zweiten Niel, nur daß man hier Italienisch spricht. Alles ist da:
die Deichmauer, die Barockkirche, der Supermarkt, das Schnellrestaurant,
die Tankstelle mit angeschlossener Werkstatt. Auf das große Glück
in der Beziehung von Thomas und Hanna wartet man auch hier vergebens. Und
wenn Thomas rückblickend davon spricht, hört sich das an, als
mißtraue er seinen eigenen Worten: "Damals in Pallerone, glaube
ich, sind wir das gewesen, was man glücklich nennt."
Fluß: Das ist zunächst einmal der Rhein. Gemächlich
fließt er durch Köln und an Niel vorbei. Bildlich steht er für
Peters Erzähltechnik: Langsam und behäbig fließt der stream
of consciousness, der seichte Erzählstrom dahin zwischen den Ufern
der Kunstgeschichte und einem ereignislosen Leben. Bis sich dann doch etwas
ereignet: Hanna hat Krebs und wird daran sterben. Seltsamerweise verändert
sich das Leben der beiden aber dadurch kaum. Sie geht nach wie vor von
früh bis spät abends arbeiten, während er gedankenverloren
über seiner Magisterarbeit sitzt. Morgens gibt sie ihm einen Abschiedskuß,
abends ist Hanna müde, dann kocht er für sie Spaghetti, dann
gehen sie einmal ins Kino, zwischendurch wird ihr eine Brust abgenommen.
Alles nicht sehr glaubwürdig.
Es ist keine große Geschichte, die Peters erzählt. Zwei
Menschen finden zusammen, der eine stirbt, der andere trauert. So war es
seit Menschengedenken, und so wird es immer sein. Zugleich aber wäre
es der Stoff zu einer der größten Geschichten der Menschheit:
die Möglichkeit der Liebe im Angesicht des Todes. Philemon und Baukis
haben es vorgemacht: Als die Götter übereingekommen waren, die
Welt durch eine Sintflut zu vernichten, beschlossen sie, zu prüfen,
ob es Menschen gäbe, die des Überlebens wert wären. Nur
das alte Bauernpaar schien ihnen würdig. Sie gewährten ihnen
einen Wunsch, und Philemon und Baukis wünschten sich: Zusammen sterben
wollten sie, gleichzeitig, damit keiner über des anderen Tod trauern
müsse. Peters zitiert diese so einfache wie bewegende Geschichte.
Doch bleibt sie Zitat. Nicht nur, weil Thomas nicht mit Hanna in den Tod
geht, sondern vor allem, weil ihre Liebe blaß bleibt, so blaß
wie Hanna als Figur. So verliert schließlich auch ihr Tod das Ungeheuerliche
und mithin das Buch seine Spannung.
Vielleicht ist es eben das: daß Peters nur zitiert, wo sich doch
ein Horizont öffnen könnte. Stadt Land Fluß gaukelt
etwas hinter der Erzählung Liegendes vor, eine tiefere Wahrheit oder
ein über das Individuum hinausgehendes Schicksal, das sich aber im
Text dann nicht finden läßt. Vielleicht liegt das in Thomas’
Geistesverfassung begründet, der verzweifelt in Parallelen von der
Antike über die Bibel bis hin zum spätgotischen Wurzelschnitzer
Douwerman nach einem Sinn in Hannas Krebstod sucht. Vielleicht aber auch
darin, daß Peters es sich nicht zutraut, einfach eine Geschichte
zu erzählen, ohne Zuhilfenahme diverser mythischer Versatzstücke.
Das ist so schade wie störend, denn auf diese Weise wirkt der Text
wie eine amorphe Zitatenmasse, der sich nur widerwillig lesen läßt.
Nun will der Text vielleicht genau das sein: Ein Spiegelbild der unzusammenhängenden,
assoziativen Gedankengängen dessen, dem die Geliebte gestorben ist.
Doch ein Zitieren um des reinen Zitieren willen ist ein wenig mager, selbst
um eine kleine Geschichte von der großen Liebe zu erzählen.
Wie schön hätten sich die Zitate zu einer weiteren, die Liebe
Hannas und Thomas’ reflektierenden Metaebene verbinden können, wie
viel hätte das Buch durch eine Spiegelung der beiden etwa in Orpheus
und Euridyke, oder selbst Douwerman und seiner Schwägerin gewinnen
können, hätte Peters den Mut gehabt, nur eines der Motive durchzuhalten.
Ein Mosaik der Liebe im Angesicht des Todes, ein Bild des ewigen Wettstreits
von Eros und Thanatos hätte sich ergeben können. Statt dessen
muß der Leser mit einzelnen Mosaiksteinchen vorliebnehmen und enttäuscht
feststellen, daß diese sich nicht zu einem Bild fügen wollen.
Für eine Studie ist das Buch zu zerfahren, für eine Geschichte
nicht glaubwürdig genug. So wie Peters Stadt, Land und Fluß
nicht zu einem einzigen Buchstaben finden kann, so kann er sich auch leider
nicht darauf festlegen, ob er eine oder mehrere Geschichten erzählen
möchte. So aber kann das Spielchen die Langeweile nicht vertreiben.
Christoph Peters, Stadt Land Fluß. Frankfurter Verlagsanstalt,
Frankfurt a. M. 1999. Gebunden, 38 DM |