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David Huggins: Der grosse
Kuss
Christine Mühlbach über
junge Briten, große Krisen und den Kuss der Musen
Steve Corks: Jungunternehmer,
englischer Mittelklassemann, verheiratet, kinderlos, sieht sich vor dem
Aus: seine Ehe bröselt, seine Firma wird ihm weggeschnappt, sein kollegialer
Vorgesetzter setzt ihn frei, und zu alledem landet er mit Nervenzusammenbruch
in der Klinik. Tief im Stolz verletzt, gräbt sich Steve immer tiefer
in Verschwörungstheorien, in denen sein Chef und Ex-Freund Alan betrügt,
vergewaltigt, mordet, lügt. Allein, es fehlt der Beweis für seine
Theorie. Einstweilen leidet Steves Ego unter Jobmangel und Unterforderung,
aus der ihm weder Eheberatung, Psychogruppe noch Midlifecrisis-Grübeleien
heraushelfen. Kurzum: Steve hat einen an der Rassel.
Er ist der typische britische
Mittelschichtserfolgstyp der jungen Autoren wie Huggins oder Hawes oder
Coe des einstigen Großreiches Britannien, die sich selbst und ihre
Helden heute vor dem Scherbenhaufen ihrer Yuppieträume sehen und die
Großen Utopien von Freiheit, Glück und Macht an Ehefrau, Kinderlosigkeit
und Thatcherismus verkaufen mußten. Die Ideale sind futsch, und wie
laut auch die Wehklagen über die von Maggie Thatcher verratene Chancengleichheit
und die wachsenden Klassengräben tönen mögen, sie sind doch
nur ein müder Abklatsch der Selbstanklagen der müden Männer,
die sich nach Großem sehnten und ihr Junggesellendasein dermaleinst
schweren Herzens, aber guten Glaubens gegen einen heimischen Himmel und
aufopferungsvollen Job tauschten.
Denn was passiert? Die Jobs
gehen flöten, und prompt kriselt’s an jeder Front: Kinder, Kinder
sollten her, doch selbst Spermaproben und Fruchtbarkeitstabellen führen
nicht zu eigenem Nachwuchs; Erfolg und Geld sind vorbei, und die einsamen
Kämpfer erzählen bereitwillig von ihren Selbstzweifeln und ihrer
Selbstsucht; Freunde verraten Freunde, und unsere einsamen Streiter entdecken,
daß Randfiguren der bürgerlichen Existenz sich als die wahren
Freunde entpuppen. Und fehlen dürfen nicht die, die ganz selbstverständlich
anders leben: die Trinker, Schwulen, Perversen, Ausgegrenzten aus unserer
neoliberalen Wirtschaftswunderwelt, also die, die zur eigentlichen Normalität
geworden sind. Denn die Versprechen an die Mittelschicht vom eigenen schuldenfreien
Haus, einem Klasse-Job und einer stinknormalen englischen Familie entpuppen
sich als unerreichbare Wunschträume. Denen nachzurennen führt
zu Identitätsverlust, Gesichtsverlust und Lustverlust. Jonathan Coe
und James Hawes erzählen ein Lied davon.
Junge britische Autoren wie
David Huggins geben das Lebensgefühl und den Erwartungshorizont einer
ganzen Generation junger Männer (und Frauen?!) wider. Dem Bild der
potenten, mächtigen, finanzstarken, kräftigen, verständnisvollen,
selbstsicheren und fertilen Adonis-Männer kann Steve Cork nur die
ironische Selbstbespiegelung vorhalten: Ich bin ein armer Schlucker, aber
ich trag’s mit Humor. Saaad, but true. So traurig und trist ihr Dasein,
so ausweglos ihre Situation sein mag, – so lustig ihre Geschichten, die
den ernsten Kern nicht übertuschen, sondern nur in freundlichem Gewand
präsentieren. Nein, lustig ist es nicht, wenn Jungunternehmer ihren
hochdotierten Job verlieren, wenn sie infertil sind und Sex nur noch als
eheliche Pflichtübung begreifen.
Steve Corks, unserem Helden
aus Der grosse Kuss, entgleitet sein Leben. Oder entglitt. Denn
der Roman rollt eine große Retrospektive auf, die Geschichte, die
sein Leben veränderte, an deren Ende der Romanbeginn steht. Rückblickend
erzählt er in so unterhaltsamer wunderbarer Weise von seiner Frau
Liz, seinem Compagnon Tony und Chef Alan, von Mary und Kate, daß
alleine mit diesen sechs Personen eine komplexe Handlung rekonstruiert
und entwirrt wird. Beispiele? Zitate? Das Blättern im Buch brächte
nur einen beliebigen Ausschnitt, der den Witz und Esprit, der sich wie
ein roter Faden durch den ganzen Roman schlängelt und nie abreißt,
unmöglich zur Geltung bringen würde. Ich verspreche aber: ich
werde weitersuchen, und gerne greife ich gleich wieder die Lektüre
auf, die ich eben erst beendet habe. Oder ich warte sehnsüchtig auf
ein weiteres Werk von David Huggins.
Die deutsche Übertragung
von Karsten Singelmanns ist wunderbar: flüssig, mit sicherer Wortwahl
und den Witz des Originals treffend.
Haffmans 1998, Hardcover,
DM 39,90 |