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Zu
Tier und Tiefe
Eine Neuausgabe des Der
armen Verschwender hebt Ernst Weiß in eine Ehrengalerie der „Romane
des Jahrhunderts"
Und da steht er nun,
Buchrücken an Buchrücken mit Proust, Joyce, Brecht und Kafka:
Ernst Weiß mit seinem erstmals 1936 erschienenen Exilroman über
jenen bemitleidenswerten Tropf, der zeitlebens nicht aus dem Schatten seines
Übervaters herausfindet. Minutiös schildert der Ich-Erzähler
die Umstände seines ersten Disputs mit dem vergötterten Vater,
einem angesehenen Augenarzt im letzten Jahrzehnt der Donaumonarchie. Erzählt
wird sodann von Mutterwärme und Vaters Patienten, von schlechten Schulnoten
des Zwölfjährigen, später dann vom Internat, von Dummejungenstreichen
und der väterlichen Geringschätzung des Schulabschlusses, von
ersten Küssen, die keine sind, weil der Siebzehnjährige sie sich
als Sünde verbietet, vom hart erkämpften Medizinstudium und dem
irreparablen Bruch, den der 1. Weltkrieg im Leben einer aufstrebenden Generation
hinterläßt.
Ein Entwicklungsroman,
ein Arztroman, eine Familiensaga und das lebendige Bild eines Epochenwandels.
Ernst Weiß steht mit Der arme Verschwender, einem reifen Spätwerk
des 1940 im Freitod Verstorbenen, auch für den Wandel von Expressionismus
zu literarischem Realismus. Das ständige Scheitern der Hauptfigur,
die drückende Melancholie im Schreiben erinnert in vielem an Gottfried
Keller, die vollendete Seichtigkeit, der gleichmütige Tonfall an Stefan
Zweig.
Doch klingt all dies
schlimmer als es ist. Abgesehen vom verlegerischen Kalkül – Der
arme Verschwender wird nicht deswegen zurecht in eine Reihe „Romane
des Jahrhunderts" aufgenommen, weil er eine so oder anders geartete Stellung
in der Literaturgeschichte einnimmt, sondern weil er auch den heutigen
Leser noch außergewöhnlich zu bereichern vermag. In welcher
„modernen" Belletristik kann man sich denn auf wohltuenden 500 Seiten in
die Widersprüche einer literarischen Figur wie der unvergessenen Valy
verlieben? Wo darf man sich denn noch ganz unverkrampft dem Entstehen eines
faschistoiden Wahns widmen, wie ihn Weiß in seinem Perikles
so lebensnah konterkariert? Heinrich Mann traf es genau: „Die Werke des
Dichters Ernst Weiß weiten das Herz, da sie das Gebiet des Menschen
erweitern: nach unten zu Tier und Tiefe, nach oben zum Geist."
(Volker Maria Neumann)
Suhrkamp, 1999, 498
S., DM 24,80
ISBN 3-518-39504-1 |