Das störrische Buch

In Günter Grass´ Wenderoman Ein weites Feld klagt die Literatur ihr Recht ein, unzeitgemäß zu sein

Das Buch ist langweilig. Jedenfalls muß man zu diesem Schluß kommen, wenn man der beinahe einhelligen Meinung der Rezensenten Glauben schenkt. So wird es abwechselnd als "ganz und gar mißraten" (Reich-Ranicki im Spiegel) oder als "zahnloser Roman" (Andreas Isenschmid in der Weltwoche) bezeichnet, und in der ZEIT schreibt Iris Radisch lapidar: "Dieses Buch ist unlesbar".

So aufgeregt die Debatte um Günter Grass´ Berlin-Roman Ein weites Feld auch geführt wurde, auffallende Einigkeit herrscht bei der Ablehnung des Buches unter den Kritikern. Grass hätte sich im Thema vergriffen, er werde weder der Wiedervereinigung noch Fontane gerecht, er erzähle nicht einmal ein Geschichte, er begeistere nicht, lautet ungefähr der Tenor. Nur zu schnell wird der Schluß gezogen: Grass hat versagt. Das ist schade, werden doch über der schnellen Verurteilung des Buches (man ist geneigt, in manchen Fällen eher von einer Verurteilung des Autors zu sprechen) dessen starke Seiten, die es zweifellos hat, verkannt, oder bleiben doch zumindest unerwähnt.

Grass´ Anliegen scheint primär das Relativieren, das In-die-Zusammenhänge-Setzen zu sein. Es wird uns kein einzelner Held oder Antiheld gegeben, wie seinerzeit in der Blechtrommel, Figuren treten beinahe ausschließlich paarweise auf. Es geht in diesem Wenderoman nicht mehr um den Einzelnen, der sich gegen eine biedere Welt stellt, wie das in frühen Romanen, etwa in der Geschichte des Oskar Matzerath oder in Örtlich betäubt, oft zu finden war. Jetzt geht es offensichtlich darum, zu zeigen, daß der Einzelne gar nicht einzeln dasteht, daß er vielmehr durch ein feines Netz von Beziehungen und Ereignissen in die Welt eingebunden ist. Zwar legt auch Fonty einige verquere Züge an den Tag, aber der groteske Alte spielt sicherlich nicht die Hauptrolle. Jedenfalls nicht allein, hier schon setzt das Relativieren ein: Fonty, diese eigenartige Mischung aus Fontane und einem Aktenboten namens Wuttke, ist nicht denkbar ohne Hoftaller, dem aus Schädlichs Tallhover entliehenen ewigen Spitzel. Der wiederum ist "Tagundnachtschatten", kann also genausowenig für sich existieren, braucht er doch jemanden, der einen Schatten wirft, Fonty eben. Das Gesetz, nach dem hier gelebt wird, ist das der Abhängigkeit. Nicht einmal das Erzählerkollektiv vom Fontane-Archiv kann sich davon freimachen, wie überflüssig wäre es ohne einen Theodor Fontane, ja schon ohne einen Fonty.

Grass’ Relativieren aber ist ein dem gesamten Roman zugrundeliegendes Ansinnen, noch im Stil ist es nachweisbar. In diesem Sinne läßt sich wohl seine eigenartige Schreibtechnik verstehen, munter setzt er da Briefe, Verhöre, Zitatcollagen, Beschreibungen, Karrikaturen nebeneinander. Das gesamte Buch wird durchzogen vom Stil des Nebeneinanders, selbst eine Untersuchung der Stilhöhen zeigt, daß hier gleichermaßen antiquierte Ausdrucksweisen, wie beispielsweise Fontys verstaubt wirkender Sprachstil, und derber Berliner ´Sprechanismus´ Verwendung finden. Nichts darf ohne Gegengewicht bleiben, und da macht der Autor noch nicht einmal vor der Literatur selbst halt. Zwar schreibt er ein literarisches Werk, doch bemüht er dermaßen oft aus der Malerei und der bildenden Kunst geborgte Darstellungsmethoden - wie etwa den Schattenriß oder das Porträt -, daß man annehmen muß, ihm sei sehr daran gelegen, mit Ein weites Feld eine Mischform zwischen Literatur und Malerei zu entwerfen. So ist es schließlich ein ständiges Hin und Her zwischen dem Chronologischen und dem Visuellen, zwischen dem an einen Zeitablauf Gebundenen und dem, das keine Zeitabfolge kennt.

Daß der Autor dabei Grenzen aufhebt, ist offensichtlich. Nicht nur, daß die Grenze zwischen Literatur und Malerei durchlässig wird, Grass also ein altes Anliegen der Malerdichter, zu denen nicht zuletzt Goethe, E.T.A. Hoffmann und Dürenmatt zu zählen sind, aufgreift. Über dem Changieren verschwindet - in Anlehnung an Schädlich übrigens - die Logik der Chronologie. Da verschwimmt Theodor Fontane mit dem exakt einhundert Jahre später geborenen Wuttke zu einer Figur, und zwar derart, daß das Fontane-Archiv hofft, über diesen nachgeborenen Doppelgänger bislang unbekannte Informationen über den Schriftsteller zu erfahren.

Nimmt es da noch Wunder, daß die Benennung solcher vielschichtiger Figuren schwerfällt, daß da nicht ein Name ausreicht? Die Zersplitterung der Identitäten in Eigennamen, Spitznamen und allegorische Namen deutet bereits auf ein eigentümliches, an anderer Stelle noch deutlicher beschriebenes Geschichtsbild hin: Ewig wiederholt sich die Geschichte, auf ihrer Bühne treten immer wieder die gleichen Akteure auf, mögen sie nun Fontane oder Wuttke, Tallhover oder Hoftaller heißen, das, was sich ändert, ist in erster Linie der Name. Diese ewige Wiederkehr der Geschichte verdichtet Grass in zentralen Motiven: Der Haubentaucher taucht ab, ist eine zeitlang verschwunden, um unvernutet an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Ewig wiederholt sich das Spiel des Immerwiederkehrens. Da wirkt selbst der Brand des Paternosters, weiteres Motiv für das sich beständig drehende Rad der Geschichte, wenig überzeugend, eher nachgeschoben. Denn ob nun im Paternoster oder im hypermodernen Lift: Am Auf und Ab, am Verschwinden und Wiederkehren ändert sich wenig. Dieses Geschichtsbild muß sich allerdings ein paar Fragen gefallen lassen: Wenn schon die Vereinigung Deutschlands, wenn schon der revolutionäre Vormärz wiederkehrt, kehrt dann auch eines Tages das Dritte Reich wieder? Ist es legitim, die Nazidikatatur auf diese Weise zu relativieren? Es muß kein Zufall sein, daß bei Grass diese dunklen Jahre unerwähnt bleiben.

Grass entwirft ein mit Worten gemaltes Panorama. Man mag es für farblos halten, in der Konstruktion birgt es seinen Reiz. Es wird all das nicht gegeben, was heute en vogue ist: Action, Schockeffekte, Gut-Böse-Schema. Ein weites Feld ist eine 781 Seiten lange Enttäuschung der Lesererwartung, es läßt sich beim besten Willen nicht konsumieren, was nicht allein an seinem Umfang liegt. Es stellt sich gegen die Zeit des Schnell-Lesens und Schnell-Vergessens - und des Schnell-Rezensierens, möchte man anfügen -, es sperrt sich. Das ist ein gewagtes Unterfangen, es wird sich zeigen müssen, ob das Buch eines Tages gegenüber einer veränderten Lesererwartung bestehen kann, oder ob es letztlich als zu spät gekommenes Zeugnis eines antiquierten Literaturverständnisses in Vergessenheit gerät, wie ein "zerissenes und obendrein scharlachrotes Kleid von einer Gewalttat, womöglich einem Mord" zeugt, dem Mord am störrischen Buch.

Ralf Hertel.

Ein weites Feld, dtv 1997, 19,90 DM