JETZT REICHT'S ABER.

Über Tocotronics K.O.O.K. und darüber, daß sie, so begehrenswert sie sein mögen, keiner haben kann.

Von Julian Weiss.

Es ist erschreckend aber wahr ... erst waren es Vierzehnjährige, die mit Rechtschreibung kämpfen, jetzt sind es Vierundvierzige, die mit dem rechten Schreiben kämpfen. Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie ich im Herbst 97 Tocotronic in der Berliner Kulturbrauerei sah und schockiert feststellte, daß ich alleine den Altersdurchschnitt um mindestens ein Jahr hob. Und jetzt melden sich Tocotronic nach zwei Jahren zurück, und den Teens und Preteens sind Herren mit grauen Schläfen gefolgt. Das Establishment zurück. Erst ins Kinderzimmer, jetzt auf den Parnaß. SZ und ZEIT sind sich einig: Sie sind die ihren. Und wer wird nicht alles herbeizitiert, um die Ansprüche zu untermauern: Jean-Paul Sartre, Greil Marcus, Michel Foucault, Karl Marx und, um klar zu machen, daß man wirklich am Puls der Zeit ist und auch Genregrößen kennt, Dario Argento --- und diese alle alleine in Der Zeit. Und es ist die Rede von "Pop-Axiomen" und "Traum- und Denksystemen", so daß man sich beinahe wieder das schlichte Gejuchze und Gegröhle von (Fast-)Pubertierenden herbeiwünscht. Das war wenigstens spontan. Es war ebenfalls vor zwei Jahren, ein Monat oder so vor dem Konzert und ein Monat oder so, nachdem "Es ist egal aber" erschienen war, als ich eines Montagmorgens vor Glück kotzte. Es kam nur der Kaffee, den ich zu zu vielen Zigaretten getrunken hatte, und nachdem ich mir den Mund ausgespült hatte, stellte ich "Es ist egal aber" noch einen Tick lauter. (Ich wohnte in einem Altbau mit wunderbaren schallschluckenden dicken Wänden.) Und auch heute denke ich noch, daß dies der schönste Tag in meinem Leben war. Und auch habe ich die ein oder andere Träne vergossen zu dem ein oder anderen ihrer Songs. Aber gehören sie deshalb mir? Denke ich deshalb, daß sie all diese Songs für mich und nur für mich gemacht haben? Sagen wir mal so. Wenn ich's täte, würd ich's sicher nicht sagen. "Eine bessere CD mit Gitarren drauf wird heuer nicht mehr gemacht", schreibt die Süddeutsche. Und es mag klar geworden sein, daß ich der letzte bin, der da widersprechend wird. "K.O.O.K." ist ein ein singuläres Ereignis. Und als jemand, dessen Gefilde das geschriebene Wort ist, bleibt mir nichts anderes als festzustellen, daß ein Buch, sagen wir eine Kurzgeschichtensammlung, das/die ähnliches leisten würde, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hierzulande vollkommen unbeachtet bleiben würde (wenn es/sie es überhaupt zur Distribution bringen würde). Womit wir beim Dilemma angelangt wären: Gute Musik ist (zumal im Vergleich mit guter Literatur) zu zugänglich. Jeder, egal ob er gerade mit dem ersten Samen- oder Feuilletonserguß beschäftigt ist, kann glauben, daß er's genauso gemacht hätte. Könnte er nur Gitarre spielen. Die Distanz fehlt. Und so fehlt die Achtung. Und das ist es, was mich heute beinahe kotzen läßt: die mangelnde Achtung, die sich in der Vereinnahmung spiegelt. "Hey, sie gehören zu uns." "Hey, sie sind so wie wir, wir sind so wie sie." Fuck!, seid ihr nicht. SEID IHR NICHT! Seid ihr nicht. Sie sind raus. Und zurecht sind sie stolz darauf. Kapiert's. Und da hilft's nicht, wenn ihr auch mal gerne ein warmes Bier im Park trinkt. Hört doch einfach hin, sagt, daß ihr's mögt und haltet sonst die Klappe. "Unsere Laube ist ganz klein. Nur ein paar Meter weiter werden die Straße breiter. Wir werden immer einsam sein." Das stammt aus dem vorletzten Song auf "K.O.O.K.", "Rock Pop in Concert". Und der Song gehört sowohl zu den weniger verrätselten auf der Platte als auch zu den aggressiveren. Die Instrumente wie gefangene Tiere auf sich selbst besonnen, stets zum Zubeißen bereit, und dann auch den Ausbruch schon mal übend. Der Song tut weh, läßt einen die Augen zukneifen, so als wäre man tatsächlich gebissen. Und er endet unvermittelt, ohne Pointe, und ich frage mich: Müsse sie denn wirklich noch deutlicher werden? Und daß wir uns hier nicht falsch verstehen. Ich freue mich über jeden Artikel, der "K.O.O.K." ein paar Mal öfter verkauft, freue mich über jeden Teenie, der Schlange steht, um eine Konzertkarte zu ergattern. Nur --- nur ein bißchen mehr Demut bitte.