Es bekommen auch die Angehörigen der Herzlichkeitsspezies ihr Fett
weg, die mit ihrer Intimität und andauerden guten Laune
selbst die gutwilligsten Zeitgenossen verschreckten: Sie wünschten
"alle naselang 'Einen schönen Tag noch!', als ob das
Leben nur aus schönen Tagen bestünde und man nicht auch noch
zwischendrin das eine oder andere zu tun hätte. Sie
flöten im Zuge stinknormaler Dienstleistungsaffären, etwas
beim Einkauf im Einzelhandel für den täglichen Bedarf, am
laufenden Band 'Bitte!' und 'Ein ganz herzliches Dankeschön!'
, so daß die nüchterne Kundin sich nach der Anonymität
eines Supermarkts und der sozialen Kälte eines ordentlichen Kapitalismus
ohne Rüschen und Girlanden zurücksehnt."
In der Tat könnte Stephan stundenlang erzählen, von Rambos
und Rüpeln, von Freundlichkeitsstrategen und Friedensengeln.
Und das tut sie denn auch auf sehr amüsante und unterhaltsame Weise.
Doch nicht nur trifft sie mit ihren phänomenologischen
Betrachtungen einen wunden Punkt bei der Leserin – wer kennt die Unannehmlichkeiten
nicht zu genüge, denen man begegnet,
wannimmer man sich im Öffentlichen Raum aufhält? –, Stephan
zeigt auch sehr gekonnt die Ursachen der Misere auf. An dieser Stelle soll
freilich appetit gemacht werden auf das Buch und nichts unnötig vorweggenommen:
Cora Stephan fährt, soviel sei
verraten, schweres Geschütz für ihre Thesen auf. Von Helmut
Plessners bis Zygmunt Baumann, typisch deutscher Befindlichkeit und dem
Tabubruch der 68er, modernem Körperkult und postmodernem Fitnesswahn:
die Essayistin spielt äußerst virtuos auf
der Klaviatur der feuilletonistischen Gesellschaftskritik.
Daß sie mit ihrer Kritik nicht den Ruf nach einer 'neuen deutschen
Gemütlichkeit mit eingebauter sozialer Nestwärme' verbindet,
versteht sich fast schon von selbst: Cora Stephan hat mit ihrem Buch Neue
deutsche Etikette statt dessen ein überzeugendes
Plädoyer für eine Renaissance der Umgangsformen vorgelegt,
Umgangsformen des gesunden Abstands und des guten Tons, die uns vor der
unerfüllbaren Forderung, alle Menschen zu lieben, wie auch von einem
sehr flüchtigen Begleiter im alltäglichen
Miteinander zu befreien vermögen: dem guten Charakter.
Rowohlt Berlin.