Cora Stephan: Neue deutsche Etikette

von Christine Mühlbach
Cora Stephan nimmt in ihrem jüngsten Buch einmal mehr unter Beschuß, was sie scharfzüngig und weitsichtig als den letzten
Schrei des Zeitgeists erkannt hat: Die Neue deutsche Etikette: Damit meint sie nicht etwa einen neuen vornehmen Umgangsstil
der deutschen upper class & Avantgarde, sondern vielmehr das Gegenteil: Die Deutschen, so ihre These, haben einen
gesunden Abstand zum Gegenüber verlernt und bezahlen diese Abkehr von ebenso steifen und förmlichen wie nützlichen und
wertvollen Konventionen nun teuer. Sitten und Gebräuche wurden leichtfertig ohne Suche nach Ersatz über Bord geworfen
worden, und nun taumelten die Deutschen recht willkürlich zwischen einer Neuen Deutschen Herzlichkeit und der banalen
Ruppigkeit hin und her: "Man könnte stundenlang erzählen: (...) Der Taxifahrer, der das Trinkgeld ohne ein Wort des
Dankes einstreicht, nicht ohne seinen Gast zuvor mit unerbetener Musik und unerwünschtem Zigarettenqualm
eingenebelt zu haben. (...) Die weit ausgreifend daherschreitendene Bürohengste, rasenden Radfahrer und
entschlossenen Blondinen, die einen auf der Straße aus dem Wege zu klingeln oder beiseite zu rempeln pflegen."

Es bekommen auch die Angehörigen der Herzlichkeitsspezies ihr Fett weg, die mit ihrer Intimität und andauerden guten Laune
selbst die gutwilligsten Zeitgenossen verschreckten: Sie wünschten "alle naselang 'Einen schönen Tag noch!', als ob das
Leben nur aus schönen Tagen bestünde und man nicht auch noch zwischendrin das eine oder andere zu tun hätte. Sie
flöten im Zuge stinknormaler Dienstleistungsaffären, etwas beim Einkauf im Einzelhandel für den täglichen Bedarf, am
laufenden Band 'Bitte!' und 'Ein ganz herzliches Dankeschön!' , so daß die nüchterne Kundin sich nach der Anonymität
eines Supermarkts und der sozialen Kälte eines ordentlichen Kapitalismus ohne Rüschen und Girlanden zurücksehnt."
In der Tat könnte Stephan stundenlang erzählen, von Rambos und Rüpeln, von Freundlichkeitsstrategen und Friedensengeln.

Und das tut sie denn auch auf sehr amüsante und unterhaltsame Weise. Doch nicht nur trifft sie mit ihren phänomenologischen
Betrachtungen einen wunden Punkt bei der Leserin – wer kennt die Unannehmlichkeiten nicht zu genüge, denen man begegnet,
wannimmer man sich im Öffentlichen Raum aufhält? –, Stephan zeigt auch sehr gekonnt die Ursachen der Misere auf. An dieser Stelle soll freilich appetit gemacht werden auf das Buch und nichts unnötig vorweggenommen: Cora Stephan fährt, soviel sei
verraten, schweres Geschütz für ihre Thesen auf. Von Helmut Plessners bis Zygmunt Baumann, typisch deutscher Befindlichkeit und dem Tabubruch der 68er, modernem Körperkult und postmodernem Fitnesswahn: die Essayistin spielt äußerst virtuos auf
der Klaviatur der feuilletonistischen Gesellschaftskritik.

Daß sie mit ihrer Kritik nicht den Ruf nach einer 'neuen deutschen Gemütlichkeit mit eingebauter sozialer Nestwärme' verbindet, versteht sich fast schon von selbst: Cora Stephan hat mit ihrem Buch Neue deutsche Etikette statt dessen ein überzeugendes
Plädoyer für eine Renaissance der Umgangsformen vorgelegt, Umgangsformen des gesunden Abstands und des guten Tons, die uns vor der unerfüllbaren Forderung, alle Menschen zu lieben, wie auch von einem sehr flüchtigen Begleiter im alltäglichen
Miteinander zu befreien vermögen: dem guten Charakter.
 

Rowohlt Berlin.