Neue englische Literatur im Herbst 1995 

Martin Amis, Gierig/Der Pfeil der Zeit, Zsolnay/Rowohlt

Gleich zwei Romane des großen Martin Amis sind hier anzuzeigen. (Und gleich zweimal liegen beide vor: als Hardcover bei Zsolnay, als Taschenbuch bei Rowohlt.) Während Gierig eine prototypische 80er Jahre-Geschichte erzählt, eine Geschichte von Selbst- und Vergnügungssucht und dem folgenden bösen Fall, ist Pfeil der Zeit ein höchst gelungenes Experiment, in dem der Held, Todd Friendly, sein Leben umgekehrt durchläuft. Und daß, wenn man den Pfeil der Zeit umdreht auch die Moral (und alles andere umgekehrt wird) zeigt sich, wenn von den Großtaten der Nazis zu berichten ist - wie sie Leben aus der Luft saugen...
Beide Romane sind großartige zeitgenössische Meisterwerke, von denen man sicher sein kann, daß sie auch in künftigen Zeiten bleiben werden.
 

Molly Keane, Die Damen aus London, List

1934 ist dieser - soeben in deutscher Fassung von List herausgebrachte Roman - zuerst erschienen. Und wer je Evely Waugh oder Nancy Mitford gelesen hat, weiß welch goldene Zeit der englischen Literatur dies war. Ironie in ihrer boshaftesten Form war schick, und Molly Keane beherrschte genau dies. Die Damen aus London sind Jane und Jessica, und alle lieben sie. Einige jedoch mehr als andere - so zum Beispiel George Playfair (!), der sich Jane ausguckt, worauf Sylvester, der ebenfalls eine Schwäche für Jane hat (und sie durch Jessica bedroht sieht) beschließt zu handeln. Die turbulente Geschichte nimmt ihren Lauf.
Ein Dank geht an den List Verlag, der über sechzig Jahre nach Erscheinen des Romans, diesen Roman endlich zugänglich gemacht hat.

Paul J. McAuley, Pasquales Florenz, Eichborn

Ein Renaissance-Roman lautet der Untertitel dieses verführerischen und spannenden Romans, der von den Tagen Leonardo da Vincis erzählt, der sich 1482, nein, nicht als Maler, sondern als Militäringenieur am Hofe des Herzogs von Mailand bewarb. McAuleys Roman spielt die Frage durch, was geschehen wäre, wenn Leonardos Erfindungen damals schon umsetzbar gewesen wären, seine Automobile und Helikopter und seine Kriegswaffen. McAuley ist es gelungen, eine äußerst anregende, lehrreiche und unterhaltsame Geschichte zu erzählen, die einen eines der größten Genies aller Zeiten neu entdecken läßt.

Vikram Seth, Eine gute Partie, Hoffmann und Campe

Was für ein Roman! Allein schon die äußeren Maße sind beeindruckend: bald zwei Kilo schwer und über 1400 Seiten lang!
Vikarm Seth, der 1952 in Indien geboren wurde, hat über sechs Jahre an dem Epos, das die Zeit seines Heimatlandes nach der Unabhängigkeit bis zum Jahre 1952 erzählt, gearbeitet. Ursprünglich, so erzählte er, im Rahmen einer Lesung im Berliner Literaturhaus, hatte er eine 250-Seiten-Geschichte im Kopf. Dann ist ihm aber daraus (wie einst Thomas Mann aus der Novelle über ein Sanatorium) ein gewaltiger, die üblichen Maßstäbe sprengender Roman geworden. In ihm erzählt Seth, der übrigens in Oxford und Stanford Ökonomie studiert hat, die Geschichte von Rupa Mehra und ihrer Tochter Lata. Es gilt eine gute Partie für Lata zu finden, die sich jedoch bald schon in einen Burschen verliebt, der alles andere als dies darstellt...
Dieser Rahmen dient Seth, der trotz seiner jugendlichen 43 Jahre schon Nationaldichter Indiens gehandelt wird (auf jeden Fall aber neben Martin Amis und einigen anderen zu den großen Stimmen der zeitgenössischen englischsprachigen Literatur zu zählen ist), dazu, von den Umbrüchen im indischen Subkontinent zu berichten, vom Niedergang der Mahardaschas, von Religionskonflikten und Ausbrüchen von Gewalt. Selten ist es jemandem auf derartige Weise gelungen, Privates und Öffentliches zu verflechten, die Logik, die beides verbindet zu illuminieren - und das in einer wunderbaren, betörenden, fließenden Sprache.
 

Mary Wesley, Ein böses Nachspiel, List

Wenn der größte Fehler im Leben eines Mannes seine Heirat war, dann, ja, dann liegen die Dinge offensichtlich nicht besonders gut. Noch schlechter liegen sie allerdings, wenn die kerngesunde Angetraute eines Tages beschließt, sich nicht mehr aus ihrem Bett zu erheben. Und genau dies ist das Schicksal Henry Tillotsons. Der versucht, sich andersweitig abzulenken und zu vergnügen, zum Beispiel mit einer Party zu Ehren seines Kakadus (der übrigens den schönen Umschlag des Hardcoverbandes ziert). Das alles hat jedoch ein böses Nachspiel...