Neue deutsche Literatur im Herbst 1995
Thommie Bayer, Irgendwie das Meer, Eichborn
Rund 80 Gedichte und Lieder versammelt der soeben bei Eichborn erschienen
Band des 42jährigen Thommie Bayer. Die Texte künden auf witzige
(und manchmal traurige) Weise vom Alltag - von Liebe, Kunst und Zukunft
- und werden nicht nur die Fans des einstigen Musikers entzücken.
Dieter Forte, Der Junge mit den blutigen Schuhen, Fischer
Zunächst einmal ist dies hier eine vortreffliche Gelegenheit, einen
Verlag zu preisen, dem die Herstellung seiner Bücher noch etwas bedeutet.
Und so ist Dieter Fortes neuer Roman in ein Leinen gebunden, wie man es
(leider) nur noch selten in der Hand haben darf.
Der Roman selbst handelt von einem Kind. Von einem Jungen, der den
Terror den Nazis und die Schrecken des zweiten großen Krieges erleben
muß. Davon, wie er mit Bruder und Mutter in einem Bett nächtigt,
und davon, wie er, wenn die Sirenen heulen, aus dem Bett springt, und wie
dies sein alles bestimmt:
Der Junge konnte sich das nicht vorstellen, er konnte sich eine
Stadt ohne Sirenen, ein Leben ohne nächtliches Sirenengeheul nicht
vorstellen, er war auf diese Sirenen trainiert (...)
Fortes Buch ist so beeindruckend wie schrecklich wie gelungen.
Doris Gercke, Auf Leben und Tod, Hoffmann und Campe
Bella Block, Doris Gerckes Detektivin, die inzwischen auch im Fernsehen
zur Erfolgsfigur avanciert ist, hat eigentlich ihr beschauliches und angenehmes
Auskommen in Hamburg. Es gibt jedenfalls keinen Grund für sie, in
fremden Ländern, sagen wir in Andalusien, nach bösen Killern
und verschwunden Männern zu suchen. Oder doch? Ein Foto, das sie eine
der wenigen aber schmerzlichen Niederlagen ihrer Karriere erinnert, läßt
sie sich umentscheiden: Ein Spiel auf Leben und Tod beginnt.
Wer Doris Gerckes bisherige Romane kennt, hat den Band sicher schon
erworben, allen anderen, sei dies ans Her gelegt, denn Gercke zählt
zu den wenigen deutschsprachigen Autoren und Autorinnen, die Handwerk und
Kunst des Kriminalromans wirklich beherrschen.
Christoph Ransmayr, Morbus Kitahara, Fischer
Sieben Jahre ist es her, da erschien einer der wunderbarsten deutschen
Romane der letzten Jahrzehnte. Er hieß Die letzte Welt, erschien
in Grenos Anderer Bibliothek, verkaufte sich über hunderttausendmal
und machte seinen Autor, den Österreicher Christoph Ransmayr reich
und berühmt. Seitdem war wenig von ihm zu hören. Vereinzelt erschienen
kleine Texte (so seine Reise nach Surabaya im ersten Narrenschiff),
und viele warteten auf den nächsten Roman. Jetzt ist er da, und das
Warten hat sich gelohnt. Die Krankheit, von der der Titel kündet,
ist die allmähliche Verfinsterung des Blicks, aber der Leser muß
freilich wachsam sein und die Augen offen halten, um alle Kehrtwenden und
Feinsinnigkeiten des Romans mitzubekommen (oder wenigstens einen Teil von
ihnen). Aber selbst wenn man Ransmayr auf die blödeste Art und ohne
jegliches Nachdenken liest, wird man berauscht sein - berauscht von einer
Sprache, die ihres gleichen sucht.
Morbus Kitahara ist zweifelsohne die wichtigste deutschsprachige
Neuerscheinung in diesem Herbst.
Gerhard Roth, Der See, Fischer
Eine Karte des Neusiedler Sees ziert das Vorsatzpapier des jüngsten
Romans von Gerhard Roth, denn dorthin reist Paul Eck, Pharmavertreter von
Beruf, um seinen Vater zu treffen, den er eigentlich nicht kennt. Doch
als er ankommt, ist der Vater verschwunden, und man vermutet einen Bootsunfall.
Eck macht sich auf die Suche nach seinem Vater, doch bald schon steht er
selbst im Mittelpunkt, verdächtigt doch Polizei ihn des Vatermords.
100 Kapitel lang hält Roth den Leser in Atem und nutzt die Folie der
klassischen Detektivgeschichte für einen klugen Zeitroman.
Klaus-Peter Wolf, Das Gen des Bösen, Hoffmann und Campe
Das Gen des Bösen glaubt Daniel König, das Musikgenie,
in sich zu tragen. Die Konsequenz, die er daraus zieht ist so einfach wie
böse: Er beseitigt sich selbst und fängt an zu morden, und zwar
nach System. Zu Opfern auserkoren werden alle, die einst nicht so wollten
wie er. Schließlich stellt sich eine Kommissarin ihm in den Weg.
Und die Geschichte nimmt ihren bitteren (und spannenden) Lauf.