Belletristik im August
Petra Morsbach, Plötzlich ist es Abend, Eichborn
451 Kapitel auf 641 Seiten. Petra Morsbach Erstling, das Resultat von 15
Jahren Arbeit, ist schon von den äußeren Maßen gewaltig.
Aber lang sind freilich viele Bücher. Metra Morsbachs von Hans Magnus
Enzensberger entdecktes Buch ist jedoch eines, das auch von literarischem
Gewicht. Es erzählt die Geschichte Ljusjas, die zu Beginn des Romans
- der zweite Weltkrieg ist soeben beendet - 24 Jahre alt ist. Es erzählt
ihre Geschichte bis heute und damit die Geschichte der UDSSR und Rußlands.
Petra Morsbach entfaltet dabei ein gewaltiges und beeindruckendes Panorama
einer ganzen Epoche.
V.S. Naipul, Ein Weg in der Welt, Hoffmann und Campe
Wie weit reicht unsere eigene individuelle Geschichte zurück? Die
Antwort ist so simpel wie komplex: Wenn die Geschichte unserer Eltern zu
unserer eigenen dazugehört, lautet sie: bis ins Unendliche. V.S. Naipul
schildert in seinem neuen Roman die Geschichte eines jungen Autors, der
seiner eigenen Geschichte nachspürt. Dabei verweben sich individuell
bedeutsame Ereignisse mit jenen, die auch die Außenwelt bestimmt
haben - sofern diese überhaupt von der inneren zu trennen ist. Und
so treten in diesem kunstvollen Roman neben den Freunden und Wegbegleitern
des Helden zahlreiche historische Gestalten auf. Gemeinsam bilden sie einen
schillernden Reigen und leiten einen Weg in die Welt.
Christine Orban, Eine Liebe der Virginia Woolf, Aufbau
Daß die Biographen Virginia Woolfs und Vita Sackville-Wests langjährige
Liebesbeziehung stets versucht haben herunterzuspielen, ist so durchschaubar
wie ärgerlich. Einerseits. Andereseits haben wir diesem Umstand das
schöne Buch Christine Orbans zu verdanken, das 1990 in Frankreich
ersterschien. Basierend auf Tagebüchern und Briefen fängt die
1955 in Casablance geborene Französin die Monate vom Herbst 1927 bis
zum Frühjahr 1928 in der zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre währenden
Beziehung ein. Dabei herausgekommen ist ein sehr einfühlsames und
subtiles Buch über die Liebe zweier großer Frauen.
Caryl Phillips, Jenseits des Flusses, Hanser
"Ich habe meine Kinder verkauft." Das ist der dritte Satz des Buchs. Und
er ist nicht in übertragener Bedeutung zu verstehen. Nein, die Ernte
war schlecht, und in Amerika sind Sklaven gefragt. Phillips erzählt
die Geschichten der drei Kinder: Da ist Nash Williams, der Missionar werden
wird; da ist Martha, die erleben muß, wie ihr Mann und ihr Kind weiterverkauft
werden; und da ist Travis, der als Soldat im zweiten großen Krieg
fallen wird. Nacheinander ist von ihren Schicksalen zu lesen zu lesen,
aber letztlich verbinden sie sich zu einer einzigen großen und bewegenden
Geschichte.
Benjamin Stein, Das Alphabet des Juda Liva, Ammann
Ein schönes Buch - außen wie innen. Benjamin Stein, Jahrgang
70, geboren in Berlin/Ost legt bei Ammann seinen ersten Roman vor, der
von ungewöhnlichen Dingen handelt: von Engeln und unterirdischen Städten
beispielsweise. Und schließlich von einem Alphabet und davon, was
es mit der Welt zu tun hat. Jedenfalls darf der geneigte Leser keine Angst
vor Überraschungen haben, mit denen der Autor immer wieder aufwartet.
Daß Stein in einer schönen, schlichten Sprache - mit einem Hang
zu herrlicher Lakonie - erzählt, macht das Buch zu einem wahren Vergnügen.
Antonio Tabucchi, Erklärt Pereira, Hanser
"Eine Zeugenaussage" - so lautet der Untertitel des neuesten Romans von
Antonio Tabucchi. Und so beginnt jedes der 25 Kapitel mit den Worten "Pereira
erklärt". Pereira ist 50, arbeitet als Übersetzer und lebt in
Lissabon. Es ist das Jahr 1938, eine Diktatur befehligt Portugal, und die
Welt brodelt. Pereira aber ist phlegmatisch. Im Lauf der Ereignisse jedoch
begreift er, was es bedeutet Verantwortung zu übernehmen. Tabucchis
Roman ist unzweifelhaft einer der wichtigsten des Herbsts. Zur Zeit wird
er mit Marcello Mastroianni als Pereira verfilmt.
Daniel Douglas Wissmann, Dillingers Luftschiff, Rowohlt
Daniel Douglas Wissmann, Jahrgang 1962, erzählt die Geschichte des
Findelkinds Roberto, das von den Dillingers, die ein Bestattungsunternehmen
führen, angenommen und aufgezogen wird. Und so lernt Roberto rasch
über Leben und Tod. Zum Beispiel, daß man, wenn man gestorben
ist, nicht in den Himmel sondern in die Werkstatt kommt. Irgendwann versucht
Roberto dann auch einmal, sich das Leben zu nehmen. Doch Togal und Hustensaft
verursachen nur Kopfschmerzen. Aber eigentlich handelt das Buch von einer
Liebe - der Robertos zu Sonia. Als sie fort ist, denkt Roberto: "Niemand
braucht eine bestimmte Frau. Es reicht doch irgendeine. Irgendeine Frau
wird schon auftauchen, dachte er. Irgendwann." Aber natürlich ist
dies ein Irrtum. Wissmann hat ein feines Buch geschrieben.