Frühjahrsspätlese II: Romane

 

Gioconda Belli, Waslala, Peter Hammer

Waslala ist ein untergegangener, sagenumwobener Ort - gegründet in Zeiten der Diktatur, Sinnbild für Freiheit und Demokratie. Raphael ist Reporter, und er begibt sich auf die Suche nach Waslala, was ebenso abenteuerlich wie symbolisch wird, denn wir schreiben das 21. Jahrhundert und der Norden hat die Ausbeutung des Südens vervollkommnet. Und so ist es schwer zu entscheiden, ob das Buch der ehemaligen Sandinistin Belli, die heute in Santa Monica (!) lebt, poetischer als politisch oder umgekehrt ist.
 

Emmanuel Carrere, Schneetreiben, Berlin Verlag

Nominiert für den Prix Goncourt und ausgezeichnet mit dem Prix Femina, hat das Carreres Roman bei uns, wie wir meinen, viel zu wenig Aufmerksamkeit erhalten, was vielleicht auch ein wenig mit dem überragenden Erfolg David Gutersons zusammenhängt, dessen Schnee, der von Zedern fällt ja im selben Haus erschienen ist. (Nun ja, wir sollten nicht wohl nicht zu sehr über Vertrieb und Erfolg nachdenken und entsprechend Trübsal blasen.) Jedenfalls: Carreres kleiner Roman erzählt von einem zehnjährigen Jungen, der mit seinem Vater in die Berge fährt, woselbst sich aus Sicht des Sohns höchstmerkwürdige Dinge zutragen, und bald ist zu fragen, wo die Abgründe steiler und tiefer sind - in Landschaft oder Seele.
 

Michael Chabon, Wonder Boys, Kiepenheuer & Witsch

Wonder Boy erzählt von Wonder Boys. Chabon, der Autor der Geheimnisse von Pittsburgh zählt zur Garde junger amerikanischer Autoren, die über Nacht berühmt wurden. Bret Easton Ellis, Donna Tart, Tama Janowitz und Jay McInerney stehen daneben. Das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Riege scheint aber, daß sie keine One-Shots sind, daß ihr Scheitern nicht mit dem zweiten Buch begonnen hat - wobei auf dieses (das zweite Buch, nicht das Scheitern), wenn uns nicht alles täuscht, in einem Fall noch zu warten ist. Und so erntete Chabon auch mit seinem neuen (dem dritten auf deutsch vorliegenden) Roman viel Beifall. Der erzählt von einem reichlich ausgelassenen Wochenende, wobei ein schicker alter Schlitten eine Rolle spielt, was uns abschließend darauf bringt, daß K&W das Buch (einmal mehr!) ganz wunderbar eingepackt hat.
 

Wolfram Fleischhauer, Die Purpurlinie, Weitbrecht

Acht Gemälde zeigt das Vorsatzpapier der Purpurlinie. Ein Dozent für Literatur aus den USA verfällt dem Charme und dem Rätsel von Nummer eins. Es hängt im Louvre und zeigt die Oberkörper zweier Damen, und die Schwarzhaarige faßt der Blonden an die rechte Warze der Brust. Andreas Michelis, so heißt unser Held, macht sich auf die Suche: er will wissen, was ihn in den Bann schlägt. Bald stößt er auf ein Romanfragment und eine politische Intrige um Heinrich IV.
 

Diana Gabaldon, Die geliehene Zeit, Blanvalet

Mit fast 1000 Seiten setzt die ehemalige Wissenschaftlerin ihre Highlandsaga um Claire Beuchamp Randall fort. Wer den ersten Teil, Feuer und Stein, gelesen hat, darf sich also freuen. Allen anderen sei nochmals unser Interview mit Gabaldon ans Herz gelegt.
 

Lars Gustafsson, Palast der Erinnerungen, Hanser

Seinen 60. Geburtstag feiert Gustafsson dieses Jahr, und so ist der Palast der Erinnerungen mit seinen Geschichten aus dem Leben des Autors ein kleines autobiographisches Werk geworden, mit dem das Jubiläum begangen wird. Gustafsson ist - gewissermaßen trotz seiner Jugend - der große alte Mann der skandinavischen Literatur, die im deutschsprachigen Raum zur Zeit ja Triumphe feiert, und für alle, die ihn noch nicht gelesen haben, ist die neue Geschichtensammlung ein wunderbarer Einstieg.
 

Klaas Huizing, Paradise, Knaus

Vor zweidrei Jahren hat uns Huizing mit dem Buchtrinker beglückt, der Geschichte des Bibliomanen Tinius, auf dem auch Arno Schmidt aufmerksam geworden war. Und während der Buchtrinker nun in schöner Taschenbuchausgabe bei btb vorliegt, gibt es bei Knaus Die Romanillustrierte PARADISE, die sich aus elf (!) Einzelromanen zusammensetzt und virtuos mit Sünden-Fällen spielt, wobei die formale Struktur des Buchs, in dem es gar Anzeigen (!) gibt, selbst ein solcher ist. Und das ist gut so, denn schließlich hat der Biß in den Apfel vor allem die Langewile vertrieben. So wie nun Huizings Buch sie vertreibt.
 

Javier Marias, Mein Herz so weiß, Klett-Cotta

Nach dem literarischen Quartett und allem Pressetrubel dürfte es kaum mehr notwendig sein, Javier Marias' Buch vorzustellen. Festzuhalten bleibt aber in jedem Fall, daß der Roman als solcher in der Tat genauso bemerkenswert ist wie die Geschichte seiner Publikation und Auflagenhöhe. Insofern: auch wenn man sich dreimal ärgert darüber, wie hierzulande Erfolg zustandekommt, man sollte das Buch trotzdem haben.
 

Margaret Mazzantini, Die Zinkwanne, Frankfurter Verlagsanstalt

Aus nur einem einzigen Buch bestand das Frühjahrsprogramm der FVA. Grund sich Sorgen zu machen, hat der Leser aber nicht, denn zum einen ist für den Herbst wieder ein volles (und ausgesprochen rundes) Programm angekündigt und zum anderen ist Mazzantinis Roman mehr wert als ein ganzer Stapel der normalen Durschnittsware, die ihm serviert wird. Die spannend und präzis erzählte italienische Familienchronik wurde von der italienischen Kritik gefeiert, und auch Preise gab's. Also: kaufen und lesen!
 

Ian McEwan, Schwarze Hunde, Diogenes

McEwan darf getrost zur Handvoll bester englischer Erzähler gerechnet werden. Und wenn er jüngst mit dem Tagträumer auch seine heitere Seite offenbart hat, so ist er doch vor allem einer, der sich in die Finsternis begibt und erhellend wie erschreckend aus ihr erzählt. Wer etwas von ihm kennt, zB seinen großen und grauslichen Venedigroman, Der Trost von Fremden, darf sich auf etwas gefaßt machen, wenn er das Urteil der Zürcher Weltwoche liest, die meinte, Schwarze Hunde sei das Furchterregendste, was McEwan je geschrieben. Wie im Venedigbuch ist auch in diesem ein junges Paar unterwegs, und wieder ist es eine Bekanntschaft, die den Lauf der Dinge der ändert - -
 

Anchee Min, Land meines Herzens, C. Bertelsmann

Nach ihrem überaus erfolgreichen autobiographischen Roman Rote Azalee liegt jetzt Anchee Mins zweites Buch auf deutscher Sprache vor. Es handelt von einer Frauenfreundschaft in China, von einer amerikanischen Lehrerin und einer jungen Chinesin, die deren Englischkursus besucht. Und damit handlet es auch von den politischen und kulturellen Bedingungen der Zeit - der frühen achtziger Jahre. Ein schönes Buch!
 

John O'Brien, Leaving Las Vegas, Knaur

Manchmal braucht es eben einen Film, um auf einen Roman aufmerksam zu machen, und so prangt denn auch der (glücklicherweise abziehbare) Aufkleber Jetzt im Kino auf dem Taschnbuch, und die Namen der Darsteller stehen auch drauf - fast so groß wie der Autor. Aber was soll's. Wenn's zum Lesen animiert, soll uns alles recht sein. Und manchmal sollen Bücher ja besser sein als Filme - Oscars hin, Oscars her.
 

Mark Wallington, Der Mann auf dem Fahrrad, Heyne

Es gibt sie noch, die Geschichten, die so kurios wie anrührend sind und die irgendwo in einem Keller vermutlich lagen, bis sie ein Autor entdeckt, mit hoch nimmt und uns erzählt, wo wir dann glauben müssen, daß die Geschichte nicht einfach erfunden wurde, sondern daß sie eben schon immer irgendwie da, wenn auch nur im Keller war. Mark Wallingtons Geschichte des Briefträgers Clive Peacock, der eines Tages durch eine Sortiermaschine ersetzt werden soll und beschließt, einen Bündel Briefe, die in seinem Heimatort aufgegeben wurden, zu packen, um sie überall, bis in die letzten Ecken Europas, selbst zuzustellen, ist eine solche Geschichte. Eine also, die zu lesen ebenso schön ist wie zu hören.