Frisch ausgepackt I in 1996



 

Michael Dibdin, Insel der Unschuld, Goldmann

Jamie traf Ronnie Ho viermal. Einmal in den Kopf, zweimal in die Brust und einmal in den Bauch, wo es richtig weh tat. Zwei Schüsse gingen daneben.
So knallig fängt Dibdins Roman an, und die nächste Überraschung kommt gleich im zweiten Absatz. Und wenn Bücher so anfangen, ist ziemlich klar, daß man sie zu Ende lesen wird.
Micahel Dibdin, der gern tiefstapelnd von sich behauptet, er sei lieber ein guter Genreautor als ein mittelmäßiger mit großer literarischer Ambition, hat mit Insel der Unschuld einen Thriller vorgelegt, der vom ersten bis zum letzten Absatz fesselt. Zwei parallele - in unterschiedlichen Erzählperspektiven verfaßte - Handlungen eröffnen das Buch: es geht um eine Serie völlig willkürlich erscheinender Morde zum einen und die Entführung eines kleinen Kindes zum anderen. Der Icherzähler jenes zweiten Strangs wird es sein, der das eine mit dem anderen zusammenführt - und das wird ihn selbst in tödliche Bedrängnis bringen.
Hier sei schon jetzt darauf hingewisen, daß wir in Bälde in der Lage sein werden, ein Gespräch mit Michael Dibdin zu führen, über das dann freilich umgehend in Bücher im Netz zu lesen sein wird.
 

Harlan Ellison, Mephisto in Onyx, Goldmann TB

Sky Nonhoff, der Lektor dieses Buches, ist auf dem besten Weg zum wichtigsten Mittler jener modernen angelsächsischen und amerikanischen Literatur zu werden, die sich vor allem durch eine Kombination von radikaler Themenwahl und ebenso radikaler Erzählhaltung auszeichnet. Nach Iain Banks beglückt er uns nun mit Harlan Ellison, über dessen Werk er auch wiederum einen erhellenden Essay beigesteuert hat.
Mephisto in Onyx erzählt von der Begegnung eines Mannes (des Erzählers), der sich in die Gedanken anderer einschalten kann, mit einem Serienkiller - einer Begegnung, die eine Frau arrangiert hat, die einst mit dem Erzähler geschlafen hat und als Staatsanwältin den Killer, der nun auf seine Exekution wartet, hinter Gitter brachte. Daß eben diese Frau sich in den Killer verliebt hat und nun an seine Unschuld glaubt, darf nicht nur dem Erzähler zu denken geben.
 

Robert Hellenga, Das verbotene Buch der Lüste, Marion von Schröder

Bei ihrer Arbeit in Florenz stößt die amerikanische Buchrestauratorin Margot Harrington auf einen Band des Renaissancedichters Pietro Aretino: die Sonetti lussuriosi handeln von den Lüsten. 16 Sonette enthält der Band und ebenso viele Zeichnungen. Und im folgenden wird sich zeigen, welche Bedeutung und Wirkung Bücher für und auf Menschen haben können. Das verbotene Buch der Lüste bleibt nämlich keineswegs ohne Folgen für Margot.
Hellengas Roman - so sinnlich wie intelligent - ist ein überaus gelunges Beispiel von Literatur über Literatur. Denn diese muß, wie der Amerikaner beweist, keineswegs frei von Leben & Erotik sein...

Donna Leon, Venezianische Scharade, Diogenes
Dies ist nun Donna Leons dritter Roman um Commissario Brunetti, den wir ja gleich ins Herz geschlossen hatten. Und, um es vorwegzunehmen, er ist keinen Deut schlechter als die beiden ersten. Brunetti muß sich für dieses Mal mit den Machenschaften der Lega della Moralita beschäftigen - einer Institution, die augenscheinlich nur den höchsten Werten verschrieben ist. (Und auch auf den zweiten Blick ist sie es noch - bedenkt man den Wert großer Banknoten.)
Ein naiver Kritiker könnte dem Roman vielleicht vorwerfen, er sei zu leicht zu durchschauen, und, in der Tat, gibt es nur wenige Überraschungen und keinerlei dramatische Wendungen, wie sie in Krimis so allseits beliebt. Letztlich wäre dies jedoch ein grobes Mißverständnis der Absichten Donna Leons. Sie porträtiert in ihrer Venezianischen Scharade eine Gesellschaft, deren Werte eben vornehmlich auf Konten liegen - die also gar nicht so unbedingt italienspezifisch ist -, und die Kriminalhandlung dient ihr dafür als Folie. Daß sie im übrigen eine ausgezeichnete Stilistin ist, davon kann sich jeder mit der Lektüre des ersten Kapitels überzeugen - der besten Exposition, die uns in diesem Frühjahr bislang begegnet ist.
 

Alan Lightman, Der gute Benito, Hoffman & Campe

Es gibt Fragen, die sind wohlformuliert und solche, die es nicht es sind. Das lernt der junge Physikstudent Bennett Lang sehr rasch. Und er schwört sich, nie wieder eine Minute an ein schlechtformuliertes Problem zu verschwenden. Denn dort gibt es keine Exaktheit, und die Exaktheit war es auch schon, was den Schüler Bennett für die Algebra einnahm.
Alan Lightman schildert in seinem zweiten Roman die Geschichte von Bennett Lang, der in seinem Erwachsenenleben als Physikprofessor zu einiger Anerkennung findet. Aber Bennett, der gute Benito, wie ihn sein früher Freund John stets nennt, gelingt es nicht völlig, von der Theorie absorbiert zu werden: Frauen sind es vor allem, die ihn mit schlechtformulierten Problemen konfrontieren. Und so muß der Schwur, als ihn die Probleme einholen, zur Leerformel werden.
Der gute Benito ist ein so intelligentes wie zartes Buch, das Hoffman & Campe soeben in exquisiter Halbleinenausstattung auf den deutschen Markt gebracht hat.
 

Francoise Mallet-Joris, Die Wachsbildnerin, List

Frankreich frühes 18. Jahrhundert: Wer da Bürgerlicher ist und eine Tochter hat, die nicht genügend schön, der hat Sorgen. Zum Glück ist die Tochter Leseurs jedoch einigermaßen geschickt, und so landet sie bei Chevallier Martinelli, wo sie die Kunst der Wachsbildnerei erlernt. Als Leseurs Tochter, Catherine, die Heldin des Romans, erkennen muß, daß Martinelli in dubiose politische Ränkespiele verstrickt ist, beginnt für sie ein Abenteuer, bei dem es um Leben und Tos geht.
Der bei List in sehr schöner Ausstattung erschienene Roman war ein großer Verkaufserfolg in Frankreich, und das dortige Feuilleton war entzückt. Jetzt sind die deutschen Leser dran, sich von Mallet-Joris entzücken zu lassen.
 

Gerald Messadie, Mein Liebes- und Verbrecherleben mit Martin Heidegger, Marion von Schröder

Was, wenn Martin Heidegger einst die Verkäuferin einer Metzgerei verführt, aus den Klauen ihres Mannes befreit und ihre Sexualität so richtig erst erweckt hätte? Und wenn er dann gar mit jener Verkäuferin sich dem Verbrecherleben zugewandt hätte, um schließlich eine Bank auszurauben?
Nun, darüber wird der Leser des neuen Romans von Gerard Messadie grübeln dürfen. Aber natürlich ist es an dieser Stelle keineswegs zuviel zu verraten, daß die Möglichkeit von Verwechslungen nicht ausgeschlossen ist.
Messadies Heidegger ist ein wunderbarer, schneller und überaus erotischer Roman, der sich komischste Art den großen Fragen stellt - zum Beispiel der der Identität: Herr Kommissar, mein Liebhaber fickt mich in den Arsch, ich glaube, ich muß meinen Ausweis ändern, verstehen Sie, ich bin nicht mehr dieselbe.
 

E. Annie Proulx, Postkarten, List

Nachdem wir letztes Jahr Proulx' Schiffsmeldungen lesen konnten, legt der List Verlag nun auch den ersten Roman der Amerikanerin auf: Postkarten.
Als der älteste Sohn eines Farmers beschließt, nicht den Hof übernehmen zu wollen, sondern sich aufzumachen in die Welt hinaus, löst er damit eine Familientragödie aus, an deren Ende, die Familie keine mehr ist und das Land zum Verkauf ansteht. Er selbst ist die folgenden Jahre auf Wanderschaft, von der aus er hin und wieder Postkarten an das einstige Zuhause schickt; sein jüngerer Bruder wird Makler in Florida, und auch die Schwester und die Mutter müssen zu ihrem eigenen Leben finden.
Der eigenwillige Roman zieht den Leser vor allem durch seine Sprache, die von merkwürdiger Spödigkeit ist, in den Bann. Nicht umsonst wurde er nach seinem Erscheinen in den Staaten mit den Werken William Faulkners verglichen.
 

Margit Schreiner, Die Unterdrückung der Frau, die Virilität der Männer, der Katholizismus und der Dreck, Haffmans

Roman in Geschichten nennt Margit Schreiner, die bis dato mit zwei Erzählungsbänden in den Feuilletons und den Köpfen ihrer Leser Furore gemacht hat, ihr neues Buch. Und so erzählt sie aus den Erinnerungen einer Autorin, die von den Umständen der eigenen Geburt, von denen sie selbst freilich nur aus Erzähltem weiß, in etwa bis zur Geburt des eigenen Kindes reichen. Daß sie dies überaus subtil und virtuos tut, wird keinen, der sie schon kennt überraschen. (Den anderen sei es an dieser Stelle nochmal gesagt: Es gibt in diesem Sprachraum niemanden, der ihr dahingehend überlegen wäre.)
Beeindruckend war für uns vor allem die erste Hälfte des Buches, in der vieles von der Kunst der Andeutung lebt, die es dem Leser erlaubt, eigene Assoziationen über das Geschehen zu blenden, was manchmal unversehens zu heftigen Adrenalinausstößen führt - zumal dann, wenn von Körperlichem die Rede. Hier ist Margit Schreiner von einer Unmittelbarkeit, derer zu sich entziehen ausgeschlossen ist. Und so ist denn auch eine bestimmte Körperfunktion der Faden, der durch das ganze Buch gewissermaßen fließt.
An manche der Erinnerungen in diesem Buch werden wir uns zweifelsohne für immer erinnern.