Thriller.exe

Betrachtungen von Julian Weiss über den Thriller: über Thomas Bergers xxx, Philipp Kerr und sein Wittgenstein-Programm, Crichtons Enthüllungen, Larry Beinharts American Hero und den Nachtmanager des Thrillerkönigs LeCarré.
 

When I put a spike into my vein...
Lou Reed

Schweißbächlein sammeln sich im Bauchnabel, UV–Strahlen sengen die Haut, ein Sonnenschirm spendet den Augen Schatten, draußen brechen sich kleine Wellen das Genick: der Mann liegt am Strand, ein bunt gestreiftes Kisschen unterm Kopf, die Nase zwischen zwei Buchdeckeln, die ein knalliger Umschlag vor den leicht sonnenöligen Fingern schützt. Die vorbeiflanierende Tiefgebräunte, die ihren Bikini immer eine Nummer zu klein auswählt, bemerkt den Leser, der sich weder von den schreienden Kindern noch von jaulenden Kofferradios stören läßt, und fragt sich, was er wohl lesen mag. Dann blickt sie wieder geradeaus, die Füße in den feuchten Sand eindrückend. Als der Leser aufblickt, sieht er gerade noch ihren Hintern, den ein Bändchen in zwei Hälften schneidet — auch sie hat ein Buch dabei, sie hält es in ihrer rechten Hand, die bei jedem zweiten Schritt gegen ihren Oberschenkel schlägt. Vielleicht treffen sich die beiden später einmal — an einer Strandbar auf einen Cappucino oder in einem Nightclub bei Vodka Orange — und vielleicht tauschen sie Büchertips. Vielleicht gehen sie auch ins Freilichtkino (mit deutschem Ton) und sehen sich Das Schweigen der Lämmer und Basis Instinct in einer Doppelnacht. Und wer weiß, wie der Abend dann enden mag, so weit von Heim und Büro. Vielleicht gehen sie händchenhaltend zum Hotel, zu seinem Hotel, und vielleicht zwinkert der Portier dem Mann freundlich zu, als dieser nach dem Schlüssel fragt. Vielleicht fahren sie gemeinsam mit dem Aufzug in den fünften Stock und gehen auf sein Zimmer. Und vielleicht zückt die Tiefgebräunte später — in seinem Bett — den nackten Bauch gewölbt, den Kopf zurückgeworfen, das Becken vorgestoßen — aus dem kleinen Beutel, der zwischen ihren Brüsten baumelt, eine fingerlange Klinge — und wenn unser Leser in seinem möglichen Orgasmus die Augen nochmals aufschlägt, ein letztes Mal, dann wird ihn dieses Grausen packen, dieses wohlbekannte Grausen.

Wäre das ein möglicher Anfang für einen Aufsatz über Thriller? Und kann soetwas überhaupt glücken — die Behandlung eines vermeintlichen Genres? Was das überhaupt sei? Einen, der immer heftig polemisiert wider jegliche Einteilung von Literatur (ausgenommen jener in gute und schlechte) kennen wir, nämlich Gisbert Haefs, der zweidrei ausgezeichnete Kriminalromane verfaßt hat. Und freilich hat er nicht ganz unrecht, denn letztlich gibt es immer nur die eine Frage: Hat's gefallen oder nicht? Daß sich daran verschiedene andere anschließen, die zu einer umfassenderen Bewertung oder zu was auch immer dienlich sein mögen, dürfte aber auch der Haffmans- und Goldmannautor nicht bestreiten. Wenn man jedoch soweit ist, wenn man also eine Betrachtung von Büchern akzeptiert, die über ein Hat– mir– gut– oder– schlecht– gefallen hinausgeht, dann ist es auch statthaft zu ordnen, zu kategorisieren und Genres zu betrachten. Das Programm der Thriller also.


Ein Mann öffnet an seinem freien Tag einem Fremden die Haustür. Der Fremde bittet ihn, ihm den Wagen anschieben zu helfen. Er habe ein Problem. John Felton würde eine derartige Bitte niemals ausschlagen. Und so geht er nach draußen und packt mit an. Es sind nur ein paar Meter, dann geht es ohnehin bergab. Als der Wagen rollt und John stehenbleiben will, bemerkt er, daß sein Hemdzipfel zwischen Tür und Rahmen eingeklemmt ist. Es ist Montag 9:10. John Feltons Welt wird später nicht mehr dieselbe sein. John hat schon bald Grund, sich über Richie, den Autofahrer, dem er einen Gefallen tun wollte und dem er am Ende den letzten großen Gefallen tun wird, gründlich zu ärgern; eigentlich will er schon kehrtmachen, erklärt sich aber dann doch bereit, mit Richie noch bis zur nächsten Tankstelle zu fahren. Da Richie gleich darauf wieder Gas gibt, bleibt John nur, ins fahrende Auto zu springen, wobei er sich das Knie verletzt. Als Richie nach haarsträubender Fahrt an der Tankstelle ankommt, und John sich mit schmerzendem Knie fluchs nach Hause aufmachen will, bietet nun Richie, dessen Laune zwischen ausgesuchter Höflichkeit und äußerster Rotzigkeit zu schwanken scheint, an, John gleich wieder rauf zu fahren. Kaum ist John jedoch im Auto, überkommt Richie der Wunsch nach Kaffee und Doughnuts — An einem Café gabeln die beiden Sharon auf, die mit ihrem Wagen in Richies crasht, was John sexuelle Avancen einbringt und den ersten Auftritt der Polizei nach sich zieht, währenddessen Richies nur leicht beschädigtes Auto geklaut wird, was diesen jedoch merkwürdig kalt läßt, weil er es nämlich, wie sich herausstellen wird, selbst gestohlen hat. Johns Versuch, sich zu diesem Zeitpunkt von seinen Gefährten abzusetzen, scheitert an seiner etwas abgerissenen Gartenkluft — die Dame vom Taxiunternehmen will Geld sehen, und Geld hat er natürlich keines einstecken. Daß John ihr im geheimen Rache verspricht, nämlich in Form eines Auftritts in voller Maklerkluft, bei dessen Gelegenheit er ihr beibringen würde, was alles er für sie hätte tun können — beziehungsmäßig und so — das erweist sich, ebenfalls viel später, auf makabre Weise als unnötig, denn kurz nach Johns Abfuhr schlitzt ihr Richie, wie schon zuvor der Frau von der Tankstelle, den Hals auf. Gedemütigt kehrt John zu Sharons Auto zurück, und wieder will er nur eines, nämlich nach Hause, und wieder geht es erst in eine andere Richtung, nach Hillsdale, wo Richie vorgibt, zuhause zu sein. John kommt nicht fort von Richie, und immer weiter entfernt er sich von Haus und Frau und Kindern. Auf der Straße kommt es (wie einst bei Spielberg) zu einem Duell mit einem Lastwagen. Und als dieses mit dem Tod des Brummifahrers, der John eins mit der Eisenstange überziehen wollte und den Richie daraufhin kurzerhand über den Haufen fährt, endet, fragt sich John — und wie es dem Leser scheint, nicht zu Unrecht: Welche Welt war an die Stelle jener Welt getreten, die er kannte?

Es ist Richies Welt. Doch Richies Welt ist so verschieden nicht von der des braven Bürgers. Richie schätzt gutes Essen und hätte gern einheitliche Vorschriften für das Anbringen von Bedienungsknöpfen in Autos; er mag Country–Musik, liebt Hunde und sehnt sich nach einer Veranda mit großer Schaukel. Und er ist so taktvoll, den Gast eines Motels, den er soeben mit dem Knauf eines Revolvers erschlagen hat, nicht in das Bett zu legen, das er aus Protest gegen den Nepp den Motels vollgepinkelt hat, bevor er den ganzen Laden dann anzündet. Richie ist wahnsinnig, das ist gar nicht in Frage zu stellen. Er kommt gerade frisch aus der Psychiatrie, die ihn als geheilt entlassen, in Wahrheit aber nur gefährlicher gemacht hat.

Vielleicht erinnern Sie sich an Henry aus dem gleichnamigen Film, dem in nüchternen und kühlen Farben inszenierten Portrait Of A Serial Killer? Hier wie da zeigt sich eine Welt, die die uns bekannte und alltägliche nicht einfach als fremde ersetzt sondern sie statt dessen logisch fortsetzt. Es ist diese immanente Logik, die das Buch des Amerikaners Thomas Berger zu einem großartigen Roman werden läßt: die Logik des Geschehens, seine Unausweichlichkeit, das Fatale jeden Schritts. Die Protagonisten mögen glauben, sie hätten eine Wahl, und in der Tat sucht John bis zum Schluß, der nicht verraten sei, nach Chancen und Möglichkeiten des Handelns, des Eingreifens — er will sich befreien, die Geschichte wenden —, aber die Freiheit wird zum Gespenst, sie ist verscherzt — schon längst. Und so eröffnet Berger dem Leser einen Blick auf die Welt (wie nicht nur er sie sieht): der Mensch als Teil eines für ihn undurchschaubauren Mechanismus, der sich selbst regiert: thriller.exe. Ich kann nicht umhin, an Chaplins Modern Times zu denken, und dann fällt mir noch Virginia Cherrill ein, das blinde Mädchen aus City Lights, und das Motiv der Blindheit vesetzt mich weit zurück, in ancient times gewissermaßen, zum tragischen Helden, dessen Blindheit für die Struktur der Welt (wie jenem Königssohn) schließlich die Blindheit für die Oberflächen derselben entgegengesetzt wird. Thomas Berger, einst bekanntgeworden durch die Verfilmung von Little Big Man, wollte nach eigenem Bekunden "ein Buch schreiben, das niemand komisch finden wird". Das ist ihm gelungen.


Auch Philip Kerr befand sich auf der Suche nach der Logik des Verbrechens. Leider hat er sie nicht gefunden. Sein Roman A Philosophical Investigation (auf deutsch Das Wittgenstein–Programm) erzählt die Geschichte einer männerhassenden Polizistin und eines genetisch defekten Massenmörders im London des Jahres 2013, in dem die topschicken Docklands der Achtziger wieder heruntergekommen sind wie einst und ein Strafkoma die neueste Form der Strafe ist. Neben dem Hammermörder von Hackney und dem Lippenstiftmann, die sich beide darauf kapriziert haben, Frauen auf mehr oder minder bestialische Weise in Serie zu töten, beunruhigt auch ein Männermörder Presse, Polizei und Politik, vor allem die Politik, denn der Mörder wählt seine Opfer nur unter Männern, die ein großes Präventionsprogramm gegen Verbrechen als MK-negativ eingestuft hat. Diesen VMK-negativen fehlt ein kleiner Baustein im Gehirn, dessen Aufgabe es ist, Aggressionen zu dämpfen, und eine groß angelegte Kampagne hat alle verantwortungsbewußten Männer des Landes aufgerufen, sich untersuchen zu lassen. Die Positiven, äh Negativen, werden in einem Computer gespeichert, und zwar unter Decknamen, die der Autorenliste der Penguin Classics entlehnt sind. Einer von denen wird, wie sollte man's anders erwarten, ziemlich wütend, als er das Testergebnis erfährt.

Wittgenstein, so sein Deckname, beschließt, in den Rechner des Gehirnforschungsinstituts einzubrechen und seine Daten zu löschen. Glücklicherweise hat er zufällig das Tagespaßwort entdeckt, und außerdem sind inzwischen alle Computer in allen Behörden der ganzen Europäischen Gemeinschaft (die heißt 2013 wieder so) miteinander vernetzt, und Wittgenstein arbeitet — na, raten Sie! — in einem Krankenhaus. Nach einem brutalen Kampf in der Cyberworld löscht Wittgenstein nicht nur sich aus dem Programm, sondern er kopiert sich auch noch rasch die anderen Daten auf Diskette. Man weiß ja nie.

So weit so gut. Das ist eine interessante Idee. Vor allem: den Verbrecher zum eigentlichen Vollstrecker der Verbrecherbekämpfung zu machen. Aber Kerr (über den auf dem Schutzumschlag nicht mehr zu erfahren ist, als daß er mit seinem Computer in London lebt) will zuviel. Und so brabbelt Wittgenstein Wittgenstein nach, ein Philosophieprofessor, der Kriminalromane um Platon verfaßt, wird in die Ermittlungen hineingezogen, Zitatbrocken liegen bedeutungsschwanger auf den Seiten rum, die vor allem durch Sex aufgelockert werden. (Höhepunkt: Wittgenstein wirft sich in seinen reality–Approximation–Anzug, nicht ohne zunächst ein RA–Kondom zu applizieren, klappt das Visier hinunter und nimmt sich seine Gegenspielerin vor: Polizistin Jakowicz, genannt Jake, die Beinahe–Lesbe, die sich einmal fragt, ob sich Männer wohl wirklich einbilden, einer Frau könne es Spaß machen, ihnen einen zu blasen: »Dann habe ich sie langsam gefickt, von hinten von vorne, vornübergeneigt wie ein Kleidersack, mit gespreizten Beinen wie eine Ballettänzerin, in den Mund, in den Arsch...«) Das (und nicht nur das) kommt so spekulativ und unorganisch, daß man es Kerr fast schon wieder verübelt, wenn er überhaupt interessante Ideen hat und manche ganz hübschen Bilder entwirft; denn alles, worüber man sich hätte freuen können an diesem Roman, geht unter in einer großen kruden Mischung. Satire, Thriller, ein Spiel mit Philosophie, düstere Zukunftsvision oder
Porno — das alles hätte das Buch werden können. Aber Kerr hat's verschenkt.

Apropos Verschenken. Bei manchen der sogenannten Bestseller glaubt man ja, daß sie in erster Linie anläßlich von Geburtstags- und Weihnachtsfesten gekauft und keineswegs gelesen werden. Aber dies scheint bei genauer Betrachtung nur einen ganz spezifischen Typus von Roman zu treffen (dessen Wesensmerkmale wir vielleicht bei anderer Gelegenheit einmal aufspüren werden) und keineswegs den Thriller: der — ich habe dazu eine kleine Umfrage in meiner Bekanntschaft gestartet — wird gelesen. Zuweilen auch am Strand. Sehr viel Geld wird da verdient, und zwei Amerikaner teilen sich unangefochten die Spitze: die amerikanischen Büchercharts für Mass Markets lesen sich wie Russisch:

Krischemkraitenkrischemkraitenkraitenkrischem und so fort. Es ist ganz und gar unglaublich. Und die Verlage werben (noch vor Erscheinen des Buchs) für wie viele Millionen Dollar die Filmrechte an wen gegangen sind. Toll. Ob' s die Bücher auch sind? — die Antwort darauf soll zur Abwechslung einmal auf dasselbe Blatt geschrieben werden. Ein klares nein geht an John Grishams Der Klient. Das Buch erzählt die Geschichte eines frühreifen in armseligen Verhältnissen groß gewordenen Jungen, der zufälligerweise Zeuge des Selbstmords eines etwas nervös gewordenen Mafiaanwalts wird, nicht ohne dabei von diesem noch rasch vor der finalen Kugel erzählt zu bekommen, wo sich die in Polizeikreisen so sehnlich vermißte Leiche eines mutmaßlich und tatsächlich ermordeten US-Senators befindet. Der Lebensmüde hatte übrigens eigens zum Zwecke der Selbstentleibung die Fahrt in einen weit entfernten anderen Bundesstaat auf sich genommen, um damit die Frage der juristischen Kompetenzen ordentlich zu verwickeln, wofür ihm John Grisham wohl ein gerüttelt Maß Dankbarkeit zu zollen hat. Der Junge jedenfalls macht der Polizei gegenüber ein paar falsche Bemerkungen, so daß diese samt Justizmoloch nun ahnen muß, was er denn erfahren hat. Daß ihm das schaden könnte, ist dem klugen Elfjährigen, der die entsprechenden Filme gesehen hat, natürlich auf der Stelle klar, und da sich seine Mutter um den schwer traumatisierten zweiten Sohn kümmern muß (der das spektakuläre Hinscheiden jenes Anwalts ebenso mitverfolgte), da der kleine amerikanische Held also in Bedrängnis und allein sich fühlt, nimmt er sich, nein, nicht in Acht, sondern eine Anwältin, wobei ihm das außerordentliche Glück zuteil wird an eine echte Kinderanwältin zu geraten, eine mit ganz echten Idealen. Bis zu diesem Punkt ist das Buch nicht gänzlich unspannend, dann aber wird es wirklich fade: Daß die Figuren stereotyp sind, das hatte ja niemand anders erwartet, aber das einfach nichts mehr passiert, daß über knapp zweihundert Seiten ein reiner Stellungskrieg zwischen Mafia, FBI und dem Klienten geführt wird, wobei etwa alle zwei Seiten (also rund hundertmal — richtig gerechnet!) wiederholt wird, in welcher Patsche der Klient doch sitzt, das ist bitter enttäuschend. (Im Spiegel hat sich ein lesender Anwalt erdreistet zu behaupten, Grisham wäre es durch den Einsatz bloßer Abziehbilder gelungen, ein Buch mit purer Handlung zu schreiben, in dem das Tempo der Aktionen beliebig beschleunigt werden könnte. Wüßte man es nicht besser, dächte man, daß so etwas nur einer von sich geben kann, dessen Lektüre in erster Linie aus Gesetz- und Verordnungsblättern besteht. Das Buch ist, um es nochmals ganz deutlich zu sagen: so handlungs- wie blutarm.) Am Ende dann findet sich die Lösung, die schon zur Mitte als einzige eigeführt wurde: das gute FBI und sein Zeugenschutzprogramm. Und gab es irgendwann (so zu Beginn des letzten Drittels) noch ein paar Bedenken gegen diese Flucht, sind sie im Breitwandsonnenuntergangsfinale alle weggewischt. Ein gutes Land belohnt seine tapferen Helden. Und die Lösung ist nicht nur die Lösung für das akute Problem, sie löst alle Probleme der kleinen Familie: die Armut, die Krankheit, die Angst, alles — und zwar durch den unbegrenzten Einsatz des Allerheiligsten —: durch Geld. Ich habe mir sagen lassen, daß in Grishams Firma das Ende etwas Zwiespältiges hatte und daß im Film davon nichts mehr übrig geblieben wäre. Offenbar hat Grisham dazu gelernt und schreibt jetzt gleich für Hollywood. Für Hollywood schreibt natürlich auch Michael Crichton. Crichton hat früher selbst Filme gedreht, und mindestens einen ganz fantastischen: Westworld mit Yul Brynner. Der spielt einen Roboter, eine Cowboy–Maschine, die es satt hat, sich tagtäglich von den Touristen eines Vergügungsparks abknallen zu lassen und sich zu wehren beginnt, was den Aufstand auch der Kollegen nach sich zieht. Die Maschinerie (hier ganz wörtlich) setzt sich in Gang. Westworld läuft hin und wieder mal im Fernsehen, und wer ihn noch nicht gesehen hat, sollte das unbedingt nachholen.


Auch in Crichtons neuestem Buch Enthüllung geht es um Maschinen und HighTech (und wie bei Kerr gibt es einen Virtual–Reality–Anzug, der aber weit weniger spekulativ genutzt wird als bei diesem, und der wird — ich habe sie nämlich schon gesehen — für eine äußerst spannende Szene im Film sorgen, in der auch erstklassige Special Effects zu bestaunen sein werden). Und es geht um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, um Political Correctness, um jene Seite Amerikas also, die sich so lange poliert, bis sie durchgescheuert ist.

Crichtons Buchs leidet vor allem daran, daß der Autor dem künftigen (beziehungsweise zweifellos schon längst bestellten) Drehbuchschreiber die Arbeit so leicht wie möglich machen will. Und sowas restringiert natürlich die Möglichkeiten des Erzählens. Will man Monologe aus dem Off vermeiden, müssen alle wichtigen Informationen in Dialoge verpackt werden. Und wenn Tom Sanders dann morgens auf der Fähre einem Bekannten so beiläufig die halbe Firmengeschichte von DigiCom erzählt oder wenn er sich nach der an und für sich harmlosen Frage nach dem gegenwärtigen Stand der Auslandsproduktion seiner Firma auf einer ganzen Seite über volkswirtschaftliche Aspekte des Ex- und Imports von Arbeit ausläßt, dann ist das in seiner nicht zu vertuschenden Konstruiertheit peinlich und unangenehm. Auch sind bei Crichton jegliche Prinzipien des Erzählens zu vermissen. Um ein Beispiel zu nennen: Das ganze Buch über erfährt man ständig, was Tom tut und macht, auch was er denkt zumeist, und dann auf einmal, als ihn gegen Ende ein überraschender und vermutlich wichtiger Anruf ereilt —: SCHNITT, Blende, nächster Morgen.

Trotzdem habe ich Crichtons Thriller, der ohne jeden Mord auskommt, gerne gelesen. Enthüllung ist weit weniger durchsichtig als Der Klient —: ein paar mal war ich mir ziemlich sicher, daß ich wüßte, wie der Plot funktioniert und machte hämische Notizen am Seitenrand. Ich hatte mich aber jedesmal (zu meiner Freude, wie ich gestehe) getäuscht. Tatsächlich nimmt die Handlung (ja, echte, richtige Handlung!) an manchen Stellen wirklich überraschende Wendungen. Und diese Wendungen sind stets wohl motiviert und gut vorbereitet (wie man hinterher gewahrt). Auch kann man Crichton nicht Grishams psychologische Holzschnittartigkeit vorwerfen, im Gegenteil: die Figuren sind — von ein paar Ausnahmen abgesehen — merkwürdig schillernd, und die Sympathien wechseln. Und auch das Ende, das auch ein Hollywood–Ende ist, hinterläßt mit dem letzten Satz einen sehr eigenartigen Beigeschmack, wie ein Tropfen Angostura im süßen Brei.

Schließlich gibt es noch ein (nicht unzynisches) Postcriptum. Sie kennen das: im Abspann wird einem rasch mitgeteilt, welches Geschick das Personal fürderhin erwarten wird. Und ganz schließlich folgt auf der allerletzten Seite ein Nachwort, das wohl in erster Linie dazu dient, wütenden Feministinnen entgegengehalten zu werden, die anbetrachts der männerbelästigenden Meredith die Messer wetzen werden. Denn der Roman ist keinesfalls bequem — übrigens weder für Frauen, noch für Männer. Daß sich an ihm (wie in den USA reichlich der Fall gewesen) mannigfache Diskussionen entzünden, ist dabei durchaus ein Verdienst seines Autors, der — um unseren kleinen Vergleich zum Ende zu bringen — beileibe kein so schlechter Autor ist wie John Grisham. Aber als Regisseur, das wollen wir in Erinnerung behalten, war er wirklich gut.


Ein guter Regisseur formte sein Material nach seinen Stars, heißt es in Larry Beinharts Roman American Hero. Das ist kein überraschender Satz. Im Unterschied zum nächsten: Und in einem Krieg mußte der Feind Nummer eins als Star angesehen werden. John Lincoln Beagle, erfolgsverwöhnter Hollywood-Regisseur mit einem Geschmack für das wahrlich Große, soll diesmal auch das Drehbuch schreiben, das Drehbuch nämlich zu einem amerikanischen Krieg, der, so der Plan des sterbenden Lee Atwater, George Bush aus dem Meinungstief bringen soll, um dergestalt dem eigentlichen Ziel der Politik näherzurücken: der Machterhaltung im Reich. Beagle, engagiert von einem jüdischen Produzenten, dessen Hauptaufgabe die Finanzierung des Ganzen ist und der wiederum vom Präsidenten direkt beauftragt wurde, Beagle schaut sich viele Filme an. Missing in Action, Platoon, Rambo II, Jungle Assault und noch ein paar andere füllen die zehn Bildschirme, vor denen er grübelt. Sein erstes Szenario lautet Die Rückkehr. Man schleust ein paar Kriegsgefangene nach Vietnam uund befreit sie dann — mit der gesamten Armee. Kein Klein–Klein. Keine Eskalation. Doch irgendwie ist Beagle nicht zufrieden, und später wird ihm auch klar warum: Dschungel. Den, so überlegt er sich, mögen die Amerikaner nicht. Zu naß. Zu heiß. Heiß und naß, das bedeutete Krankheit und Sex. Sein zweiter Entwurf, Die Kreuzzüge, sieht vor, daß Terroristen den Präsidenten entführen. Beagle sitzt da und denkt nach, und Beinhart läßt den Leser seinen Gedanken folgen. Die Versuchung, all das aufs ausführlichste zu zitieren ist ganz unerhört, denn lesen Sie selbst: "Was für ein Gedanke! Sollen die Terroristen doch Bush exekutieren! Dann wird Dan Quayle Präsident und erklärt dem Terrorismus den Krieg. Nicht wie bei diesem Krieg-den-Drogen-Quatsch. Richtiger Krieg, wo wir einmarschieren und ganze Städte ausradieren. (...) Offensichtlich würde der Kunde da nicht mitmachen. Bush müßte überleben. (...) Was, wenn die Terroristen Bush und Quayle entführten? Delta Force befreit Bush, aber die Terroristen töten Quayle. Das war ein machbares Konzept." Trotzdem wird es verworfen.

Beinharts Buch ist eine Satire, eine echte Groß=Satire von Rang und unglaublicher Dreistigkeit, von einer Dreistigkeit, wie sie in Büchern — zumal des Unterhaltungsgenres, rar geworden ist, und genau deshalb fällt es so schwer, jener Versuchung, entzückt zu zitieren, zu widerstehen. Auch fällt es schwer, das Buch zusammenzuraffen, keineswegs kreist alles um Beagle, im Gegenteil,
es gibt ein sehr stattliches Personal und viele Handlungsstränge, die Beinhart virtuos miteinander verflicht. Da gibt es zum Beispiel den amerikanischen Helden mit dem trefflichen Namen Joe, der für eine große Sicherheitsberatungsagentur arbeitet (oder wie immer so etwas auch heißt) und von einer so berühmten wie schönen Schauspielerin geheuert wird, die nicht verstehen kann, warum ihr letztes Engagement für einen Film, in dem John Lincoln Beagle Regie führen sollte, kürzesterhand abgesagt wurde, und zwar mit der äußerst fadenscheinigen Begründung, Beagle sei erkrankt, und die von Joe wissen will, wer sie da genasführt hat und ob jemand ihre Karriere zerstören will. Und Joe verliebt sich in Maggie, so heißt sie nämlich. Aber vorerst darf er nicht ran. Und außerdem hat er eine Menge zu ermitteln und zu tun. Da jedoch sein Arbeitgeber, der übrigens mit einem größeren Beschattungsauftrag in das neue Filmprojekt von Beagle involviert ist, glauben soll, daß Maggie und Joe ein Paar geworden sind, und da Maggies Villa, in die sich Joe eingenistet hat, komplett verdrahtet ist, müssen die beiden eine akkustische Scheinwelt errichten, die sich im wesentlichen durch Stöhnlaute konstituiert, und als dann zu befürchten ist, daß das Hausmädchen eine Spionin der Agentur sein könnte, müssen auch optische Beweise her, worauf es zu einer sehr betrüblichen Szene kommt, in der sich jeder der beiden zunächst dem einen und dann dem anderen Laken widmet. Glücklicherweise, das sei schon hier für alle Empfindsamen verraten, die das Buch sonst gar nicht mehr lesen möchten, dürfen sie sich später auch noch miteinander beschäftigen.

Aushalten müssen sie allerdings auch so manches, denn — beinahe wäre es vergessen geraten, und man mag mir das zum berechtigten Vorwurf machen — das Buch ist nicht nur Satire sondern, ja, richtig!, es ist auch Thriller und als solcher oft ganz ungemein spannend. Und gerade durch das beschwingte Moment des Buchs, seiner ungeheuren Komik, erhalten jene Passagen, in denen Beinhart ganz unvermutet das Tempo anzieht, in denen Leben bedroht und ausgelöscht werden, etwas Eisiges und Schneidend=Grausames.

In einem anderen Handlungsstrang erleben wir den Präsidenten Bush mit seinem Außenminister Baker. Letzterer pflegt ersteren, nebenbei bemerkt, Bushie zu nennen. Das ist im Anmerkungsteil verbürgt: Fußnote 11. Der Anmerkungsteil ist eine wunderbare Sache und schade nur, daß man immer zurück blättern muß — richtige Fußnoten wären zweifelsohne schöner gewesen. Und da ich ihn nun schon erwähnt habe und da wir ohnehin gerade bei den fabulous Bush & Baker boys weilten und da ich mich ferner nun schon über etliche Zeilen zurückgehalten habe, ein kleines Beispiel noch für Beinharts Unverfrorenheit, bei der man wünschte, es wäre hierzulande einer mal so garstig & gemein:

"Es ist natürlich billig, sich über Präsidenten lustig zu machen, (...) Jerry Ford (...) Richard Nixon (...) Jimmy Carter (...) Dann ist da noch die Sache mit dem Sex. Es gibt zum Beispiel hartnäckige Gerüchte, daß Bush Freundinnen hat. Wenn Sie an den Aphorismus denken, wonach Macht das beste Aphrodisiakum ist, und sich Barbara anschauen, dann ergeben sich daraus drei Möglichkeiten: George ist ein normaler Mann, der sich zu jüngeren Frauen hingezogen fühlt und seine Frau betrügt; George
entschließt sich, Sex ausschließlich mit einer Frau zu haben, die aussieht wie die Großmutter in einem Werbespot für Gebißreiniger; George ist ein Eunuch. Denken Sie darüber nach — welchen George wollen Sie als Führer des Landes?" Wo waren wir stehengeblieben? Bush will Führer seines Landes bleiben, und Beagle denkt darüber nach, mit welchem Krieg er das am besten hinkriegt. Und sein drittes Szenario haut endlich hin. Es heißt: Der Zweite Weltkrieg — Das Video, und basiert auf dem Hitler-Polen-Modell, das einen vor dem lästigen Problem bewahrt, ein Land zu finden, das Amerika angreift, — auf dem No-appeasement-diesmal-machen-wir-es-besser-Modell. Das war toll. Wir mußten nur einen Hitler finden und dafür sorgen, daß er in Polen einmarschiert. War das machbar? Ja. Er fand schon. Es gab viele Hitler und viele Polen. Aber wo? Nun, Amerikaner mochten die deutsche Kriegsführung. Mechanisiert. Zivilisiert. Sauber und trocken. Und als Beagles Blick auf Erikas Lieblingsnazi, auf Wüstengeneral Rommel, fällt, ist der Drehort beschlossene Sache.

Die Szenen, die sich Beagle dann ausdenkt, und die, die er der Filmgeschichte entlehnt, all diese Szenen unter dem Motto punktuell & präzise haben wir gesehen. Sie errinnern sich doch noch an Saddam Hussein und jenen Vergleich von Hans Magnus Enzensberger? "Die letztlich gewählte Lösung muß natürlich als Geniestreich angesehen werden", heißt es. Beinharts Buch auch.


Am ersten Tag des Golfkriegs setzt die Handlung des letzten Romans von John Le Carré, Der Nacht–Manager, ein. Jonathan Pine, auf dessen Beruf und Geschick der Titel des 600 Seiten starken Romans abhebt, tut Dienst im Hotel Meister in Zürich: er wartet auf einen angemeldeten Gast und hofft, daß er nicht eintrifft. Der Fernseher läuft: seit fünfzehn Minuten immer das gleiche Videospiel. Dann schaltet er ihn aus: Der Krieg war vorbei.

Der Gast, auf den Jonathan wartet, ist einer, der mit dem Videospiel sein Geld verdient: Richard Onslow Roper, Waffenhändler. Und der Grund, dessentwegen Jonathan hofft, Roper verzichtete auf seine Stippvisite in der Schweiz, ist ein Grund, der weit zurückreicht, zurück in Jonathans Vergangenheit, ein Grund, der viel mit einer gewissen Frau zu tun hat, mit Liebe und Tod. Aber wir wissen das nicht. Noch nicht. Der erste Satz lautet: An einem schneegepeitschten Abend im Januar 1991 verließ Jonathan Pine, der englische Nacht–Manager des Palasthotels Meister in Zürich, seinen Platz hinter dem Empfangstisch und bezog, erfüllt von ihm bis dahin unbekannten Gefühlen, seinen Posten im Foyer, um im Namen seines Hotels einen vornehmen späten Gast willkommen zu heißen. Und schon dieser elegante Satz, der mit letztlich ungeheurer Knappheit eine ganze Szene malt, läßt eine erste Frage auch zurück. Erfüllt von ihm bis dahin unbekannten Gefühlen. Was mögen das für Gefühle sein? Und nur sehr langsam lernt man, daß Jonathan seinen Posten gar nicht gern verläßt, um den vornehmen Gast zu begrüßen. Und noch bevor die Gäste eintreffen, denn Mr. Roper reist mit Gefolge, legt der Autor kleine Fährten aus, läßt uns Spuren in Pines Gedächtnis folgen: Jonathan inspiziert auf einem kleinen Rundgang, der zu seinen abendlichen Pflichten zählt, Umbauarbeiten am Hotel: "Die numerierten Holzteile lagen in Stapeln an der unverputzten Wand. Jonathan, der ihren moschusartigen Geruch wahrnahm, erinnerte sich, daß Sophies Haar an jenem Abend, als sie sein Büro im Queen Nefertiti betrat, nach Vanille gerochen hatte." Wer ist Sophie? Welcher Abend? Was geschah im Queen Nefertiti?

Es wird viele Seiten dauern, bis wir wirklich erfahren, was alles war, was geschehen ist, und hier sei dies nicht abgekürzt, denn jede Zusammenraffung, jede Linearisierung dieses Romans müßte einen Eindruck vermitteln, der ihm nicht gerecht wird. Der Umgang mit Zeit ist eines, was Le Carré zum großen Erzähler werden läßt: Augenblicke werden gedehnt, Momente an andere gekoppelt, alte Schnappschüße herausgekramt, kleine Bruchstücke der für den Leser noch vagen und offenen aber letztlich schon abgeschlossenen und bestimmten Zukunft gezeigt — Fragen, Hoffnungen, Befürchtungen, Vermutungen und Ängste werden evoziert, und das Erzählte gewinnt eine beinahe schon unglaubliche Präsenz, eine Gegenwärtigkeit, wie sie nur in den besten Romanen zutage tritt. Und das alles gelingt dem nunmehr 63jährigen Autor scheinbar aus dem Handgelenk. Oft sind es unauffällige kleine Nebensätze, winzigste Einsprengsel, die ganze Geschichten erzählen. "Er steht in Sophies Penthouse, bekleidet — was zum Teufel spielt es für eine Rolle, was er da anhatte? — bekleidet mit genau dieser Smockingjacke; ein ägyptischer Polizeiinspektor in Uniform und zwei Mitarbeiter in Zivil, ebenso starr wie die Tote, lassen ihn nicht aus den Augen. Der Beginn eines Absatzes, vor dem niemand wußte, daß es eine Tote gab. Dann die Beschreibung eines zerstörten Zimmers, die Beschreibung blutverschmierter Wände, die Beschreibung der Lage, in der sich die Leiche befindet, die Beschreibung ihrer Kleidung: am Oberkörper die Reste einer Bluse oder eines Nachthemds, deren Farbe nie mehr herauszufinden sein wird." Vielmehr steht nicht geschrieben, aber wir wissen mehr, als uns womöglich lieb ist. Oder eines Nachthemds.

Jonathan, der die Leiche und den Menschen, der sie einst gewesen, nicht vergessen wird, sowenig wie ein sensibler Leser die Szene, in der sie gefunden, wird auf Reisen gehen — im Auftrag einer kleinen Abteilung des britischen Geheimdienstes, den Händlern des Kriegs das Handwerk zu legen. Es ist die Mission eines Freiwilligen, dessen Leben bis dato nur der Probelauf für ein Stück gewesen war, in dem er gar keine Rolle gespielt hat, eines Freiwilligen, der getrieben wird von Sehnsucht und Reue und Liebe und Pflicht. Es sind fürwahr die großen Themen, die sich im Innern des Buchs entfalten, aber sie steigen derartig natürlich, auf so unprätentiöse Weise auf, daß sie zweifelsohne, ja gut und gerne unbemerkt bleiben könnten (was fraglos sehr britisch ist und wovon man sich wünschte, andere hätten mehr davon gelernt).

Der Nacht–Manager — wie gut dieser Titel ist und wie gut es ist, daß sich der Verlag nicht davor gescheut hat, ihn zu verwenden, wird einem übrigens erst im Laufe des Buchs so richtig klar — ist, wenn die Stellungnahme denn von Belang, der großartigste der hier versammelten Romane.
 

Der Thriller also.
Sonne, Schweiß und Tod. Vielleicht lernen sich unsere beiden Badenden auch nur kennen und lieben. Und vielleicht beschließen sie bei bravem Pinot Grigio, ihr Leben fürderhin gemeinsam zu verbringen. Und lesen dann an kalten, beschneiten Winterabenden gemeinsam vorm Kamin. Und lassen sich nicht nur vom flackernden und funkenspleißenden Holz erwärmen sondern auch vom Gruseln. Von den Abgründen, von denen sie zuweilen träumen und von denen sie wissen, daß es sie gibt. Irgendwo. Und fern vom trauten Heim. Die es gibt. Von den Abgründen zwischen den Deckeln ihrer Bücher.
 

Julian Weiss.