Wolfgang Schweiger: Mit reinem Herzen

Kratzer, kleine Risse in der Haut, sie tun nicht weh. Man spürt sie kaum. Und doch können sie Leben ändern. Wenn in die oberflächliche Wunde dessen, der nicht geimpft, ein Tetanuserräger dringt; wenn Viren Schleimhäute passieren. Eine Perturbation und man verläßt den Gleichgewichtspfad. Normalität bricht, und die Welt, die unter ihr lauert, kommt zum Vorschein.

Ein Mann setzt seinen Wagen gegen einen Baum. Er versucht, ihn wieder auf die Straße zurückzubekommen. Doch ein Reifen ist platt. Er legt sich schlafen. Und das, das hätte er nicht tun sollen. Wie schon in Abschied in der Nacht ist es auch in Wolfgang Schweigers Mit reinem Herzen der Schlaf des Helden, der dessen Dasein zum Kentern bringt.

Der Mann wacht wieder auf. Er macht sich auf den Weg. Er hört Gelächter. Er geht ihm nach. Und das, das hätte er nicht tun sollen. Er wird Zeuge eines Mordes. Und die Mörder entdecken den Zeugen. Spätestens jetzt pulsiert das Gift in den Venen. Der Mann wird fliehen und zunächst entkommen. Aber seine Wohnung, seine Heimstatt wird er aufgeben. Er ist in Gefahr. Er wird fliehen. Und die in die Raffinements der Liebeskünste eingeweihte Polizistin, die ihn beschützen soll, kann nichts daran ändern. Der Mann wird fortan ein anderes Leben führen. Das alte wird Historie. Eine Zeile aus seinem Lieblingswestern fiel ihm ein: "It ain't like it used to be, but it'll do." Doch für den Mann muß sich dies erst erweisen.

Er verbirgt sich. Aus Angst vor den Mördern. Er ist ihm Zeugenschutzprogramm. Doch dort, im Exil, droht eine andere, gar nicht so schleichende Gefahr, die Paranoia. Ein Krimiautor gibt ihm Rat. Geh in die Offensive! Und der Mann geht in die Offensive. Planvoll zunächst. Doch in diesem Leben unter dem Leben, im Dasein außerhalb der Zivilisation gibt es keinen Plan. Und die Dinge eskalieren. Der Gejagte wollte zum Jäger werden. Dann aber wird der Jäger zum Schlächter. Er sieht rot. Er ist viele Filmhelden auf einmal. Und er wird in die Enge getrieben. In seiner letzten Trutzburg umkreist. Dort wird er die Regeln des Spiels erfahren. Und ein letztes Mal versuchen zu fliehen.

Wolfgang Schweigers neuestes als Haffmans Kriminalroman bei Heyne erschienes Buch ist ein Muß. Schweiger ist erstklassiger Stilist, Meister der Lakonie und Auslassung. (Und das können nur wenige: Erzählen durch Auslassen. In der Literatur wie im Film - in dessen europäischem Zweig der Virtuose der Auslassungen Aki Kaurismäki heißt.) Mit reinem Herzen vergeht wie im Flug, und es beschert einen Leseabend, an dem man sich fragt, was außerhalb der eigenen vier Wände noch wartet, an dem man nachdenken wird, was geschehen kann, wenn man sich zu frühzeitig aus dem Ohrensessel erhebt. Oder gar in ihm einschläft.

Steffen Huck.