Das Schreibheft in einer Reprint-Ausgabe

von Matthias Wegener.  

Ein Leser in England kann einmal die Woche mindestens drei Literaturzeitungen kaufen. Wenn man dann noch die Beilagen der Tageszeitungen rechnet und kurz an die monatlich publizierten Magazine denkt, meint man sich in ein literarisches Schlaraffenland versetzt. 

In Deutschland ist das ganz anders. So sehr anders, daß man sich berechtigt fühlt, den Satz Heinrich Heines, daß ein Poet (ein deutscher wohl) besser nicht nach London führe, dreist umzudeuten. Zwar werden hierzulande mehr Bücher produziert und auch mehr Bücher verkauft als in Großbritannien, aber literarische Periodika, die wöchentlich oder auch nur monatsweise erschienen, gibt es nicht.  

Jammervoll ist auch der Zustand des Feuilletons unserer Tages- und Wochenzeitungen. Während die Süddeutsche und die Frankfurter Allgemeine die Fahne noch einigermaßen hochhalten, scheint der Abstieg der Zeit, die offenbar lieber einen lustigen Bastelbogen veröffentlicht, anstatt Bücher zu bereden, nicht mehr aufzuhalten zu sein.  

Nun ist der Fall der Zeit ja leider nicht der einzige Fall, den es zu beklagen gibt, die Klimaverschlechterung für Literatur in diesem Land ist auch an anderen Stellen manifest: der Spiegel verzichtet erstmals seit Jahren auf ein "Special-Ausgabe" zur Buchmesse, das Pilotprojekt einer Zeitschrift mit dem Titel "Lektüren" scheiterte schon nach der Null-Nummer, was gar nichts mit dem journalistischen Null-Niveau der Nummer selbst zu tun hatte, sondern am unglaublichen Desinteresse der lesenden Öffentlichkeit lag.  

Das es auch anders geht, wenigstens zweimal im Jahr, beweist seit 1983 Norbert Wehr mit seinem Schreibheft. Gewiß ist nicht anzunehmen, daß der Herausgeber jemals auch nur im entferntesten von seiner Arbeit hat leben können, trotzdem hat er bald 15 Jahre ‘durchgehalten’. Und so muß ihm das Unternehmen, das der kluge Kaufmann Kroth heuer im Juni gestartet hat, wie eine wohlverdiente wunderbare Würdigung vorkommen. Zweitauseneins nämlich hat einen Reprint des "Schreibhefts — Zeitschrift für Literatur", umfassend die Nummern 22 bis 45 und die Jahre 1983 bis 1995, vorgelegt. Das Schreibheft, herausgegeben von Norbert Wehr und seit dem 22. Heft begleitet von Hermann Wallmann, ist das Gegenargument zur trübsinnigen Bestandsaufnahme vom Anfang und gleichzeitig deren Bestätigung: Eine deutsche Literaturzeitschrift von europäischem Rang, wenngleich viel eher ein Magazin, das allein in anspruchsvollen Buchhandlungen zu kaufen war und ist und die damit typischerweise verbundene niedrige Auflage hatte und hat. Also allenfalls doch nur ein Silberstreif am Horizont der literarischen Diaspora "Deutschland", der sich Dank des Verlages von Zweitausendeins aber zu einem veritablen Wetterleuchten mausern könnte. 

Bis dato bewies man bei Zweitausendeins für Programmgestaltung erhebliches Gespür und namentlich die Reprints, zuletzt die Werke von Jean Paul, erreichten überhaupt erst durch Zweitausendeins — annonciert im legendären Merkheft — angemessene Verbreitung. Von Kopf & Herzen wünscht man dem Schreibheft einen ähnlichen Erfolg, wie einst der "Fackel" oder der "Akzente"-Edition, obwohl dieser Vergleich gewiß ein wenig hinkt. 

Der vorliegende Reprint ist das "Dokument eines vierzehnjährigen Gespräches über Literatur", wie der Herausgeber in seinem kurzen Nachwort selber sagt. Der Inhalt einer Ausgabe ist oft einem Thema oder einem Autor allein gewidmet, Norbert Wehr nennt die Art und Weise in der dies geschieht, eine "Kompositonstechnik korrespondierender Dossiers". Ein solches Verfahren nimmt dem einzelnen Heft zwar vielleicht die Buntheit, versetzt es aber dafür in den Rang fast einer Monographie. Nicht allein aber, daß einem schon bekannte Größen wie Melville, Kis, Celine oder Lowry auf neue Weise nahegebracht werden, nein, auch regelrechte Entdeckungen darf man machen, wie das Heft Nummer 49 zum Beispiel, mit dem großartigen collagierten Portrait des Argentiniers Vizconde des Lascano Tegui. Und da das Schreibheft niemals einer Mode oder einem bloßen Trend folgte und darüberhinaus stets bemüht war weiße Flecken auf der literaturgeschichtlichen Landkarte zu erforschen, haben viele Nummern die Bedeutung eines Nachschlagewerks, was durch den Reprint und die ihn erschließenden Register nochmals klar wird. 

Hundertsechsundneunzig Mark für fünftausendfünfhundert Seiten einer Literatur-Zeitschrift, wie es hierzulande für lange Zeit keine zweite geben wird, sind nicht zuviel und wenn man dann noch, die, wie immer bei Zweitausendeins, würdige Ausstattung betrachtet, bleibt eigentlich nur noch zum Bestellzettel zu greifen. 

Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Herausgeben von Norbert Wehr und mit einer (klugen) Gebrauchsanweisung versehen von Annette Brockhoff. 5 Bände, Leinen, Reprint, Zweitausendeins, Frankfurt 1998.