Etwas von der Essenz aller Menschlichkeit...

 Steffen Huck über Ralf Rothmann

Ralf Rothmanns Blick auf Tiere war es, was derjenige, der mir die Lektüre seiner Bücher empfahl, sofern ich mich recht erinnere, zuerst erwähnte. Und auch späterhin war davon noch die Rede, und auch hier wird davon noch zu reden sein.
 

I.

Ralf Rothmann wurde 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach Volksschule und Maurerlehre arbeitete er, wie Suhrkamp, sein Verlag, verlauten läßt, in verschiedenen Berufen. Nach längeren Reisen durch Mexiko und Südamerika lebt und arbeitet er heute in Berlin, dem Wolkenkucksheim subventionierter Kulturteilnehmer, dieser auf Hundescheiße gebauten Pappstadt, wie eine Figur in Rothmanns Erzählung Messers Schneide sagt. Seit 1984 hat er fünf Bücher veröffentlicht. Dem Gedichtband Kratzer, der heute in einer 1987 erweiterten Fassung vorliegt, folgten 1986 und 88 die beiden Erzählungen Messers Schneide und Windfisch. 1991 erschien Rothmanns erster Roman Stier, seinen zweiten, Wäldernacht, publizierte er im letzten Jahr. Es liegt also vor: eine Entwicklung vom Lyriker zum Romancier  durchaus keine ungewöhnliche im Verlauf, und hält man es mit Arno Schmidt, bei dem es ja auch ein lyrisches Frühwerk gab, eine hin zur besseren Kunst, respektive zur bedeutenderen Gattung. Über letztes mag man theoretisch streiten dürfen, ersteres aber wird sich im Falle Ralf Rothmanns erweisen.

Legen wir sie also nebeneinander, die jeweils ersten ihrer Art: Kratzer, die ersten Gedichte, Messers Schneide, die erste Erzählung, und Stier, den ersten Roman.

 

II.

Die Männer von morgen
Ihr Frauen, allein mit dem Eisschrank,/ans Staubtuch gebunden, an ein liebloses Leben,/nehmt euch der Jünglinge an,/die sich in Seitenstraßn langweiln/und euch beim Fensterputzen zusehn, verstohlen/eure Busen bewundernd, eure himmlischen/Hüften - schenkt ihnen ein Lächeln,/denn sie träumen von euch./lindert die Qualen des Sommers in ihnen:/schält sie aus ihren Lederjacken,/ihrem Wortschatz aus Blech,/den verchromten Gefühlen, bedeckt/ihre zitternde Blöße mit Küssen./Seid gut zu den Männern von morgen, ihr Guten,/erfüllt ihnen eure Wünsche; verhindert,/daß sie wie üblich werden, voll Härte und kalt/und ihre blühenden Frauen verzweifeln/an Eisschrank und Staubtuch, an einem lieblosen Leben.

Ich will's gerne zugeben, ich habe  in einem Hotelbett liegend – laut gelacht, als ich es das erstemal las, und mit einem Fragezeichen notiert: Schlaft mit NachbarsJungen & alles wird gut –? Aber natürlich ist die Sache in Wirklichkeit gar nicht zum Lachen, und der Scherz, den sich Rothmann erlaubt, letztlich eine Form der Ironie, mit der er sich gegen die Bitternis wappnet, die einen beschleichen kann, wenn man darüber nachdenkt, wie aus Kindern Erwachsene werden; wie sie enden und warum. Rothmann sieht, was schief läuft, und er sieht die Wunden, aber in seinen guten Gedichten verzichtet er darauf, die Finger in sie zu legen, streift sie nur mit Seitenblicken.

Während der Ton der Gedichte changiert, mal sind sie leise sind und mal ziemlich laut (die leisen sind schöner), mal heiter und mal sehr sehr traurig (wie das wunderschöne Verstreute Kirschen), eint sie vor allem, und das kann man leider vom Gros zeitgenössischer Dichtung nicht behaupten, daß sie sich nicht verschließen, das Gegenteil von hermetisch sind, daß sie letztlich etwas mitzuteilen haben. Fast bin ich versucht, zu sagen: daß sie erzählen wollen. Doch zunächst noch ein lyrisches Schlußstück:

Nicht die zerrissene Kette,/der Biß in die Hand, dein/blutender Mund, der Kuß unter Tränen,/nicht das Zittern, Beschwörung oder Schnaps –//daß wir uns ansehen jetzt/mit ausgetrockneten Augen,/und stumm.//(Vor dem Imbiß am staubigen Park/putzte sich jemand die Schuhe/mit einem Stück Brot.)

 

III.

Der Drang zum Erzählen führte Rothmann zur Erzählung, und mit Messers Schneide lieferte er sein vielbeachtetes (zweites) Debut. Es handelt von Manfred Assen, der Gedichte schreibt und der gelegentlich Taxi fuhr, weil er vom Schreiben nicht leben wollte, und der, wie man rasch erfährt, auf dem Weg ist, Vater eines Kindes zu werden, das er nicht will. Die werdende Mutter, Iris, wähnt er in Italien, im Haus ihrer Schwester in Bacchereto, von dem er vermutet, das dort die Frauen ausdrücklich auf ihrer Seite sind.

In kunstvoll in die Gegenwart montierten Rückblenden erzählt Rothmann im folgenden (auf rund 130 Seiten) die Geschichte von Iris und Assen. In der Kneipe von Assens Freund Lauter lernen sie sich kennen. Als sie sich das nächstemal sehen, und es nach Mitternacht ist, auf einer Party in Kreuzberg, manövrierte sie den sturzbetrunkenen Assen in ein kleines Zimmer, in dem zwei Kühlschränke voller Bücher und ein ausziehbares Sofa standen; außerdem erinnerte er sich nur noch daran, daß ihr Körper nichts zu wünschen übrig ließ. (Und Sätze wie diese lassen freilich ebenso nichts zu wünschen übrig. So ist es neben vielem anderem die Ökonomie Rothmanns Erzählweise, die zu bewundern ist.)

Am nächsten Tag sehen sie sich wieder. Und nicht lange nach dem Essen in Iris Wohnung ziehen sie sich wieder, jeder in einer Ecke des Zimmers, rasch aus. Kleingeld prasselte zu Boden. In der jähen Nacktheit wie auf einem anderen Stern, fragte Assen nach der Monatsmiete. Vor Scham über die Frage verstand er ihre Antwort nicht.

Die Dinge laufen seltsam. Und in den darauffolgenden Tagen hebt Assen das Telefon nicht ab, wenn es klingelt, während er später darauf warten wird, daß es klingelt und in seiner Verzweiflung momentlang (ein schönes Wort, zu dem Rothmann gerne greift) hofft, es könnte defekt sein, und sich von seinem Freund Lauter anrufen läßt, um festzustellen, daß mit dem Gerät alles in Ordnung ist. Ansonsten ist wenig in Ordnung. Assen quält sich mit einem Gefühl, das er nicht Liebe nennen mag, sucht aber eine Nähe, die ihm vorenthalten wird. Und dann ist Iris schwanger, und Assen benimmt sich wie, ich kann es nicht anders sagen, wie ein asoziales Schwein. Und just, als ich mir (auf Seite 112) eine Notiz machte, die meiner Verwunderung Ausdruck
geben sollte, wie Iris sich die Injurien des eine Abtreibung herbeisehnenden Assen gefallen lassen kann, läßt sie sich diese nicht
mehr gefallen. Der Rest ist bekannt. Die Geschichte ist eine traurige Geschichte.

Aber sie hat ein merkwürdiges Ende, eines, in dessen Verlauf Assen zum Messer greifen wird und einen Mann töten will, letztlich aber –, nun, ich weiß wirklich nicht, ob dies hier Erwähnung finden soll. Jedenfalls mußte ich an einen kleinen Abschnitt
aus dem vorderen Drittel des Buchs denken, in dem Assen Lauters schriftstellerische Versuche reflektiert. Lauters Notwendigkeit zu schreiben, so denkt sich Assen, wurde theoretisch. In immer größeren Abschnitten entstanden immer kältere Konstruktionen, blitzgescheit, und es kam ihm nicht in den Sinn, suspekt zu finden, daß er alles was er machte auseinanderlegen, begründen, deuten, erklären konnte. – Aber warum, fragte ihn Assen einmal, hast du es dann überhaupt geschrieben.

Ob also am Ende von Rothmanns Erzählung alles, auseinandergelegt, begründet, gedeutet und erklärt werden kann – ich ziehe es wirklich vor, dies offen zu lassen.

IV.

Aber Messers Schneide ist mehr als nur die Geschichte von Assen und Iris. In vielen kleinen Blenden (und auch in Lauters Monologen) finden sich zum Teil frappierende und manch schockierende Bilder und Gedanken. Vom Bluten der Frauen ist zu
lesen (und vom Wissen im Gesicht der schönen Zwölfjährigen) und von Assens Erinnerung an den Fleck in Mutters Bett. Und es gibt eine herrlich=schaurige (an Greenaways Koch erinnernde) Paarungs- und Schlachtungsszene, zu der es übrigens ein Pendant im späteren Roman Stier auch gibt, und später liest Iris die Namen auf Grabsteinen, um sich fürs Baby inspirieren zu lassen –

Und es gibt eine Tierszene. Zweieinhalb Seiten ist sie lang, und die Erinnerung an sie, jetzt da ich dies schreibe, läßt mich schlucken. Es ist eine Szene aus Assens Kindheit. In der neu zementierten Kompostgrube in Elterns Garten trollt sich aufgeregt ein Maulwurf. Und Rothmanns Blick auf dieses kleine Tier (mit den noch kleineren Augen) ist von einere derartigen Wärme, von einem Gefühl für die Mit=Kreatur, wie sie uns verlorengegangen scheint.

Hans Wollschläger schreibt in seiner (viel zu unbekannten) Streitschrift wider den alltäglich=grausamen Umgang mit Tieren, Tiere sehen Dich an – Oder das Potential Mengele: Das Alias-Wort Humanität, das mit vielen prinzipiell guten Gründen im vergleichsweise ausgezeichneten – Grundgesetz nicht vorkommt und im Strafgesetz erst recht nicht –: beschreibt es nicht eine Lebensauffassung, die in der ganzen Menschheit zuletzt nicht vorkommt?

Für Rothmann ist, wie für Wollschläger, Humanität kein Alias-Wort, und so wie sich die Grausamkeit dieser Gesellschaft vielleicht am besten an ihrem Umgang mit ihren Tieren erweist, erweist sich Rothmanns zutiefst humane Weltsicht vielleicht am besten in seinem Blick auf Tiere; in ihm liegt etwas von der Essenz aller Menschlichkeit.

Der kleine Assen wird auf Anweisung seiner Mutter eine Schaufel holen müssen und sie so halten, daß das Blatt flach auf dem Grubenboden lag. Und dann reißt er sie, als der Maulwurf darübereilte, hoch. – Lustig sah es aus, wie er senkrecht durch die Luft flog mit von sich gekehrten Vorderpfoten – als hätte er die Daumen bequem hinter Hosenträger geklemmt. Weich landete er auf einem Stück frisch umgegrabener Gartenerde und war mit einer einzigen, mächtigen Kraulbewegung bereits zu einem Drittel darin verschwunden, als (...) Der Rest ist Entsetzen.

V.

Auch in Stier gibt es eine solche Szene. (Und diese war es, von der mir berichtet wurde.) Sie handelt von Ratten, und sie hat nichts vergleichbares in der Gegenwartsliteratur. (Mir fiele ganz allgemein, und dazu muß man aus der Gegenwart weitzurückgreifen, momentan nur Sternes Sentimental Journey ein, das Kapitel vom todten Esel –) Überhaupt fällt es schwer,
Vergleiche zu finden für Rothmanns Stier, seinen ersten Roman. Ein bißchen mußte ich an Jägersbergs Weihrauch und Pumpernickel denken, aber was soll das letztlich auch, es gibt entschieden wichtigeres als diese Art der Vergleiche.

Stier erzählt von den Lehr- und Wanderjahren Kai Carlsens, das heißt Kai erzählt von ihnen selbst. Er macht zunächst, wie sein Schöpfer, im Ruhrgebiet eine Lehre als Maurer, danach findet er Unterschlupf und den ein oder anderen Job bei Ecki, einem ehemaligen Bauingenieur und derzeitigem Gastwirt, in dessen baufälligem Haus, in dem viele Leute wohnen; schließlich arbeitet er als Krankenpfleger im Waldklinikum. (Apropos Klinikum: es gibt da doch einen gewissen Einfluß auf Rothmann, der sich gen Ende immer deutlicher offenbart. Da sind die langen Monologe, die Kai mit bestimmten Weltsichten konfrontieren; die mit drei Punkten manchmal sehr merkwürdig verhallenden Sätze; die Schöne mit den stark ausgeprägten Wangenknochen...)

All diese Erinnerung notiert Kai Carlsen in Berlin, wo er in einem Mietshaus wohnt, in dem er von allen Arten von Lärm geplagt wird. (Geräusche und Töne einerseits, Licht und Farben andererseits sind ohnehin Rothmanns Obsession, und es gibt ganz famose Klein- und Kleinstschilderungen von akkustischen und optischen Eindrücken, während Gerüche praktisch fehlen.) Der
Auftakt des Romans, der diese Plagen schildert, ist übrigens wirklich äußerst komisch, in der Tat gehören die ersten knapp 20
Seiten zum komischsten, was ich je gelesen habe. Die Lese=Empfindungen verschieben sich aber, und nach der Ausgelassenheit am Beginn wird man alle Arten von Emotionen erleben, und zwar eben nicht nur an den Figuren sondern auch
an sich selbst.

VI.

Mehr wird nicht gesagt. (Tatsache ist, ich scheue davor zurück, zuviel über das Buch zu erzählen, oder vielmehr dadurch: zuvieles auszulassen.) Stattdessen zum Abschluß noch einmal Rothmann selbst. Ecki, der Kai in seinem Haus aufgenommen hat, und in beträchtlichen finanziellen Problemen steckt, hatte gerade Besuch vom Gerichtsvollzieher. Sein Freund Salzburg steht bei ihm.

Ecki warf den Zahlungsbefehl zu den übrigen Formularen, schlug Salzburg, der grinste mit dem Handrücken gegen Bauch und Brust, zerzauste ihm die Haare – und lächelte dann, wie nur er es konnte: Jenes Lächeln, bei dem man unwillkürlich dachte, es sei die Lösung für alles, die Goldader seines Wesens. Etwas von der Essenz aller Menschlichkeit lag darin, und man atmete augenblicklich freier, als wäre es ein stärkendes, ein herzstärkendes Mittel – auch wenn es eigentlich nicht wahr sein konnte, dieses Lächeln, auch wenn es eine Lüge war, und zwar die großartigste, die es gibt: Die weiße Lüge, daß leben leicht sei.
 

Die Bücher von Ralf Rothmann erscheinen im Suhrkamp Verlag.