Legen wir sie also nebeneinander, die jeweils ersten ihrer Art: Kratzer, die ersten Gedichte, Messers Schneide, die erste Erzählung, und Stier, den ersten Roman.
Ich will's gerne zugeben, ich habe in einem Hotelbett liegend – laut gelacht, als ich es das erstemal las, und mit einem Fragezeichen notiert: Schlaft mit NachbarsJungen & alles wird gut –? Aber natürlich ist die Sache in Wirklichkeit gar nicht zum Lachen, und der Scherz, den sich Rothmann erlaubt, letztlich eine Form der Ironie, mit der er sich gegen die Bitternis wappnet, die einen beschleichen kann, wenn man darüber nachdenkt, wie aus Kindern Erwachsene werden; wie sie enden und warum. Rothmann sieht, was schief läuft, und er sieht die Wunden, aber in seinen guten Gedichten verzichtet er darauf, die Finger in sie zu legen, streift sie nur mit Seitenblicken.
Während der Ton der Gedichte changiert, mal sind sie leise sind und mal ziemlich laut (die leisen sind schöner), mal heiter und mal sehr sehr traurig (wie das wunderschöne Verstreute Kirschen), eint sie vor allem, und das kann man leider vom Gros zeitgenössischer Dichtung nicht behaupten, daß sie sich nicht verschließen, das Gegenteil von hermetisch sind, daß sie letztlich etwas mitzuteilen haben. Fast bin ich versucht, zu sagen: daß sie erzählen wollen. Doch zunächst noch ein lyrisches Schlußstück:
Nicht die zerrissene Kette,/der Biß in die Hand, dein/blutender Mund, der Kuß unter Tränen,/nicht das Zittern, Beschwörung oder Schnaps –//daß wir uns ansehen jetzt/mit ausgetrockneten Augen,/und stumm.//(Vor dem Imbiß am staubigen Park/putzte sich jemand die Schuhe/mit einem Stück Brot.)
In kunstvoll in die Gegenwart montierten Rückblenden erzählt Rothmann im folgenden (auf rund 130 Seiten) die Geschichte von Iris und Assen. In der Kneipe von Assens Freund Lauter lernen sie sich kennen. Als sie sich das nächstemal sehen, und es nach Mitternacht ist, auf einer Party in Kreuzberg, manövrierte sie den sturzbetrunkenen Assen in ein kleines Zimmer, in dem zwei Kühlschränke voller Bücher und ein ausziehbares Sofa standen; außerdem erinnerte er sich nur noch daran, daß ihr Körper nichts zu wünschen übrig ließ. (Und Sätze wie diese lassen freilich ebenso nichts zu wünschen übrig. So ist es neben vielem anderem die Ökonomie Rothmanns Erzählweise, die zu bewundern ist.)
Am nächsten Tag sehen sie sich wieder. Und nicht lange nach dem Essen in Iris Wohnung ziehen sie sich wieder, jeder in einer Ecke des Zimmers, rasch aus. Kleingeld prasselte zu Boden. In der jähen Nacktheit wie auf einem anderen Stern, fragte Assen nach der Monatsmiete. Vor Scham über die Frage verstand er ihre Antwort nicht.
Die Dinge laufen seltsam. Und in den darauffolgenden Tagen hebt Assen
das Telefon nicht ab, wenn es klingelt, während er später darauf
warten wird, daß es klingelt und in seiner Verzweiflung momentlang
(ein schönes Wort, zu dem Rothmann gerne greift) hofft, es könnte
defekt sein, und sich von seinem Freund Lauter anrufen läßt,
um festzustellen, daß mit dem Gerät alles in Ordnung ist. Ansonsten
ist wenig in Ordnung. Assen quält sich mit einem Gefühl, das
er nicht Liebe nennen mag, sucht aber eine Nähe, die ihm vorenthalten
wird. Und dann ist Iris schwanger, und Assen benimmt sich wie, ich kann
es nicht anders sagen, wie ein asoziales Schwein. Und just, als ich mir
(auf Seite 112) eine Notiz machte, die meiner Verwunderung Ausdruck
geben sollte, wie Iris sich die Injurien des eine Abtreibung herbeisehnenden
Assen gefallen lassen kann, läßt sie sich diese nicht
mehr gefallen. Der Rest ist bekannt. Die Geschichte ist eine traurige
Geschichte.
Aber sie hat ein merkwürdiges Ende, eines, in dessen Verlauf Assen
zum Messer greifen wird und einen Mann töten will, letztlich aber
–, nun, ich weiß wirklich nicht, ob dies hier Erwähnung finden
soll. Jedenfalls mußte ich an einen kleinen Abschnitt
aus dem vorderen Drittel des Buchs denken, in dem Assen Lauters schriftstellerische
Versuche reflektiert. Lauters Notwendigkeit zu schreiben, so denkt sich
Assen, wurde theoretisch. In immer größeren Abschnitten entstanden
immer kältere Konstruktionen, blitzgescheit, und es kam ihm nicht
in den Sinn, suspekt zu finden, daß er alles was er machte auseinanderlegen,
begründen, deuten, erklären konnte. – Aber warum, fragte ihn
Assen einmal, hast du es dann überhaupt geschrieben.
Ob also am Ende von Rothmanns Erzählung alles, auseinandergelegt, begründet, gedeutet und erklärt werden kann – ich ziehe es wirklich vor, dies offen zu lassen.
Und es gibt eine Tierszene. Zweieinhalb Seiten ist sie lang, und die Erinnerung an sie, jetzt da ich dies schreibe, läßt mich schlucken. Es ist eine Szene aus Assens Kindheit. In der neu zementierten Kompostgrube in Elterns Garten trollt sich aufgeregt ein Maulwurf. Und Rothmanns Blick auf dieses kleine Tier (mit den noch kleineren Augen) ist von einere derartigen Wärme, von einem Gefühl für die Mit=Kreatur, wie sie uns verlorengegangen scheint.
Hans Wollschläger schreibt in seiner (viel zu unbekannten) Streitschrift wider den alltäglich=grausamen Umgang mit Tieren, Tiere sehen Dich an – Oder das Potential Mengele: Das Alias-Wort Humanität, das mit vielen prinzipiell guten Gründen im – vergleichsweise ausgezeichneten – Grundgesetz nicht vorkommt und im Strafgesetz erst recht nicht –: beschreibt es nicht eine Lebensauffassung, die in der ganzen Menschheit zuletzt nicht vorkommt?
Für Rothmann ist, wie für Wollschläger, Humanität kein Alias-Wort, und so wie sich die Grausamkeit dieser Gesellschaft vielleicht am besten an ihrem Umgang mit ihren Tieren erweist, erweist sich Rothmanns zutiefst humane Weltsicht vielleicht am besten in seinem Blick auf Tiere; in ihm liegt etwas von der Essenz aller Menschlichkeit.
Der kleine Assen wird auf Anweisung seiner Mutter eine Schaufel holen müssen und sie so halten, daß das Blatt flach auf dem Grubenboden lag. Und dann reißt er sie, als der Maulwurf darübereilte, hoch. – Lustig sah es aus, wie er senkrecht durch die Luft flog mit von sich gekehrten Vorderpfoten – als hätte er die Daumen bequem hinter Hosenträger geklemmt. Weich landete er auf einem Stück frisch umgegrabener Gartenerde und war mit einer einzigen, mächtigen Kraulbewegung bereits zu einem Drittel darin verschwunden, als (...) Der Rest ist Entsetzen.
Stier erzählt von den Lehr- und Wanderjahren Kai Carlsens, das heißt Kai erzählt von ihnen selbst. Er macht zunächst, wie sein Schöpfer, im Ruhrgebiet eine Lehre als Maurer, danach findet er Unterschlupf und den ein oder anderen Job bei Ecki, einem ehemaligen Bauingenieur und derzeitigem Gastwirt, in dessen baufälligem Haus, in dem viele Leute wohnen; schließlich arbeitet er als Krankenpfleger im Waldklinikum. (Apropos Klinikum: es gibt da doch einen gewissen Einfluß auf Rothmann, der sich gen Ende immer deutlicher offenbart. Da sind die langen Monologe, die Kai mit bestimmten Weltsichten konfrontieren; die mit drei Punkten manchmal sehr merkwürdig verhallenden Sätze; die Schöne mit den stark ausgeprägten Wangenknochen...)
All diese Erinnerung notiert Kai Carlsen in Berlin, wo er in einem Mietshaus
wohnt, in dem er von allen Arten von Lärm geplagt wird. (Geräusche
und Töne einerseits, Licht und Farben andererseits sind ohnehin Rothmanns
Obsession, und es gibt ganz famose Klein- und Kleinstschilderungen von
akkustischen und optischen Eindrücken, während Gerüche praktisch
fehlen.) Der
Auftakt des Romans, der diese Plagen schildert, ist übrigens wirklich
äußerst komisch, in der Tat gehören die ersten knapp 20
Seiten zum komischsten, was ich je gelesen habe. Die Lese=Empfindungen
verschieben sich aber, und nach der Ausgelassenheit am Beginn wird man
alle Arten von Emotionen erleben, und zwar eben nicht nur an den Figuren
sondern auch
an sich selbst.
Ecki warf den Zahlungsbefehl zu den übrigen Formularen, schlug
Salzburg, der grinste mit dem Handrücken gegen Bauch und Brust, zerzauste
ihm die Haare – und lächelte dann, wie nur er es konnte: Jenes Lächeln,
bei dem man unwillkürlich dachte, es sei die Lösung für
alles, die Goldader seines Wesens. Etwas von der Essenz aller Menschlichkeit
lag darin, und man atmete augenblicklich freier, als wäre es ein stärkendes,
ein herzstärkendes Mittel – auch wenn es eigentlich nicht wahr sein
konnte, dieses Lächeln, auch wenn es eine Lüge war, und zwar
die großartigste, die es gibt: Die weiße Lüge, daß
leben leicht sei.
Die Bücher von Ralf Rothmann erscheinen im Suhrkamp Verlag.