Mit einem Bekenntnis desselben Schlages öffnet auch das Tagebuch der Emily Vincent –: Charles S., ihren Vormund, habe sie getötet, sie habe ihn in den Abgrund gestoßen. Sie habe ihn fallen sehen. Und nach einigen Wochen wird die Leiche auch tatsächlich gefunden.
Aber der Reihe nach, denn Der Fall Emily V. beginnt mit einem Vorwort.
Dieses ist verfaßt von einem Verwandten Emilys, der ihr Tagebuch
in ihrem Nachlaß fand. Das Ungewöhnliche an diesem Fund war
jedoch, das sich neben dem Tagebuch zwei weitere Manuskripte fanden - eines
aus der Hand Professor Freuds, eines verfaßt von Dr. Watson! Und
alle drei Schriftstücke handeln von derselben Geschichte! Der freundliche
Erbe hat sich nun die Mühe gemacht, die einzelnen Texte in Abschnitte
zu
zerlegen und so zu montieren, daß der Leser leicht der Chronologie
der Geschehnisse folgen kann.
Die also beginnen mit dem Geständnis – begleitet vom Gedanken auch
an den eigenen Tod. Denn Emily fühlt sich schuldig. Schließlich
sei sie eine Verbrecherin, ja!, eine Mörderin. Und so geht es ihr
schlecht, so schlecht, daß auch die alte Anorexia
nervosa wieder auflebt, so schlecht, daß der Vater ihrer Freundin
(und Kollegin) Sara ihr vorschlägt, den seit einiger Zeit in Wien
– denn hier befinden wir uns – reüssierenden Doktor Freud aufzusuchen.
Also begibt sich Emily – anfänglich widerstrebend – in die Behandlung
des Jahrhundertgenies, der wiederum den Verlauf der Therapie protokolliert
und auch zu einem Vortrag vor der Mittwochsgesellschaft verarbeitet, wenn
auch unter Zurückhaltung einigen Materials.
Dieselbe Zurückhaltung pflegt Emily – schließlich muß sie (mehr denn sie will) vor dem Professor die unaussprechliche Tat verheimlichen. Schuld hin, Schuld her – so ganz ungetrübt ist ihr manchmal aufflackernder Wunsch, gehenkt zu werden, dann auch wieder nicht. Überhaupt ist Emily Meisterin im Versteckspielen. Eines, das sie verstecken wollte, kommt jedoch bald ans Licht. Zuerst gesteht sie es Freud, dann der Freundin: Sie hätte ein Motiv gehabt, den Tod von S. zu wünschen, habe sich dieser doch seit ihrem vierzehnten Lebensjahr immer wieder an ihr vergangen.
Hier mag es nun von Bedeutung sein, das exakte Jahr zu nennen, in dem Freud Emily zu therapieren versuchte: 1904. Freud glaubt also nicht mehr so recht an die Wahrheit der vielen Minderjährigenverführungen, von denen er zu hören bekommt: Immer mehr gewinnt bei ihm der Gedanke Vormacht, diese könnten nur imaginiert sein, könnten Fantasien sein, die ihren Beitrag leisten, den Weg zum eigentlichen Problem zu versperren. Wahrheit und Wirklichkeit sind zweierlei.
Der Wahrheit verpflichtet ist Sherlock Holmes, dessen Theoriebildungen auf Indizien der äußeren Welt beruhen, und dessen tiefschwarze Melancholie in eben jenem Jahr seinen alten Freund, Weggefährten und Partialbiographen Watson dazu veranlassen, sich mit dem Gebiet der Psychopathologie zu beschäftigen, was jenen auf nahezu direktem Weg zu Freud führt - und zur Erkenntnis, daß sich die Methoden der beiden Detektive auf frappierende Weise gleichen. Noch bevor der Fall beginnt, in dessen Verlauf Holmes – Sherlock Holmes – zum 001 des Geheimdienst ihrer Majestät werden wird, was, wenn man sich Watsons Pflichtbewußtsein und Gefühl für Staatsräson und Geheimhaltung vergegenwärtigt, völlig plausibel erklärt, daß wir über die späten Fälle des Großmeisters der Ausschlußtechnik, die sich aus internationalen Verwicklungen und Spionage ergaben, so bedauerlich wenig wissen, – also noch bevor der Fall beginnt, plant Watson das Treffen der Detektive und notiert: Ob es mir wohl gelingen würde, die beiden zusammenzubringen? fragte ich mich. Und wenn ja, was würde dabei herauskommen?
Bevor wir darauf zu sprechen kommen, aber erst einmal zurück zu
Emily – oder vielmehr zu ihrem Verbrechen. Mit dessen Aufklärung wird
Holmes nämlich betreut, denn Charles S. war in geheimer diplomatischer
Mission in Deutschland und Österreich unterwegs, und man hat Sorge,
daß er von deutschen Agenten ermordet wurde! Bald schon erfahren
Emily und Sara, zwischen welchen sich im übrigen eine überaus
spannende und anmutige Liebesgeschichte anbahnt, zu der mehr oder minder
alles, was zu Liebesgeschichten eben gehört, gehören wird, bald
schon erfahren sie von der Anwesenheit Holmes' im Fall S., und während
Emily sich einmal mehr dem Henker nahe fühlt, spinnt Sara – von der
Unschuld ihrer Freundin überzeugt – einen Plan zur Abwehr und Verteidigung.
Es beginnt ein Spiel, und alle Regeln und Kniffe strategischen Denkens
kommen zur Anwendung. Denn, ja, die beiden Frauen sind nicht nur frühe
Feministinnen mit einer gewissen Nähe zu Sappho, sie sind auch
beide überaus intelligent.
Was wiederum nicht nur Holmes zu schaffen macht, sondern eben auch Freud.
Als die beiden endlich aufeinandertreffen – und zu diesem Zeitpunkt, das
darf angekündigt werden, sind die Erwartungen sehr hoch, wobei die
Frage, ob Freud die Gelegenheit erhalten wird, Holmes zu analysieren, um
womöglich eine latente Homosexualität zu diagnostizieren, nur
eine unter vielen ist – als sie also miteinander reden, wird Freud mit
Indizien der äußeren Welt konfrontiert, die seiner Theorie der
Verführungsfantasie nicht sonderlich zupaß kommt. (Daß
es auch Dinge gibt, die Freud sagt und Holmes nicht gefallen, liegt
dabei auf der Hand.)
Der Leser ist zu diesem Zeitpunkt aber schon ausreichend verunsichert,
um sich auf keine Seite mehr stellen zu wollen. Was wirklich ist, liegt
auf der Hand, aber Wahrheit löst sich in konkurrierenden Konstrukten
auf. Ab jetzt werden die Seiten atemlos gewendet – von jedem neuen Abschnitt
erhofft man sich wenigstens einen Hauch von Sicherheit, bis man sie am
Ende scheinbar hat. Die Manuskripte werden von einem Nachwort beschlossen,
und die Autorin desselben hat immerhin promoviert! Für sie gibt es
keine Zweifel mehr. Weder was den Tod von S. noch was die Verführung
von E. anbelangt. Aber
für uns gibt es kein solches Entrinnen.
Keith Oatleys – soeben bei Ammann erschienener – erster Roman ist, das kann schon jetzt munter prognostiziert werden, wohl das intelligenteste, anregendste und zugleich verstörendste Buch des Frühjahrs. Vor allem beeindruckt es durch seine innere Logik und Konsistenz - Eigenschaften, die sich hier auch noch paaren mit Spannung und Unterhaltsamkeit. David Lodge nannte Oatleys Roman genial. Und es fällt nicht schwer, sich ihm anzuschließen, wobei daran - das sei abschließend so laut als möglich gesagt – die einfühlsame und stilsichere, schlechthin brillante Übersetzung Frieda Ellmans einen nicht zu unterschätzenden Anteil hat.
Ammann 1997.