Steffen Huck über Donna Leons venetianische Kriminalromane  

Donna Leon: Venezianisches Finale

Helmut Wellauer war zu Lebzeiten Legende, ein Gott der Musik, ein Dirigent, wie es nach Bekunden vieler, die einst mit ihm gearbeitet, keinen zweiten gab. Jetzt ist Wellauer tot. Vor dem letzten Akt wird er im Opernhaus Venedigs in seiner Garderobe gefunden. Ein Hauch von Bittermandel umgibt ihn. Commissario Brunetti übernimmt den Fall, der Italiens Gemüter bewegt. Brunetti ist verheiratet (mit einer Tochter aus vornehmstem Hause, will sagen, einem Palazzo am Canale Grande) und hat zwei Kinder (einen von der Anarchie träumenden 15jährigen Sohn und eine 11 oder 12jährige Tochter, was später von Bedeutung sein wird).

Brunetti braucht nicht lange, um herauszufinden, daß Altnazi Wellauer von vielen nicht so recht gemocht wurde, und es drängt sich die Frage auf, ob sein Tod nicht vielleicht wirklich eher ein herberer Verlust für die Musik als für die Menschheit war. Und nur, indem Brunetti dieser Frage nachgeht, gelingt es ihm den Fall zu klären.

Donna Leons erster Venedigkrimi – inzwischen ist der zweite erschienen, der demnächst an dieser Stelle besprochen werden wird – ist ein sehr gutes Buch, und das nicht nur für Krimileser und Venedigliebhaber (wobei es freilich für venedigverliebte Krimifreunde eine ganz besondere Lektüre ist). Leon versteht es, mit wenigen Strichen Figuren zu zeichnen: die Operndiva, die um ihre Kinder bangt, die lesbische Amerikanerin, die deren Sekretärin mimt, den zynischen Kunstkritiker, der Whisky leichter runterkriegt als gutes Essen, die Ärztin, die der KPI angehörte. Haupt- und Nebenfiguren. Aber vor allem ist da Guido Brunetti, einer der interessantesten weil unstilisiertesten Detektive, von denen ich je las. Brunetti ist weder Marlowe noch Maigret noch liegt er irgendwie dazwischen. Brunetti ist Brunetti, ein sanfter Zyniker, ein liebevoller Vater, ein leiser Hazardeur. Man darf sich darauf freuen, mehr über ihn zu lesen.

Diogenes.



 

Vom Müll und dem Tod

 
Leider weiß man ja nie so recht, welche Erwartungen man nach einem guten Erstlingsroman an den Nachfolger richten soll. Ich neige im allgemeinen zu gedämpften. Umso größer ist die Freude, wenn das Gegenteil eintritt, wenn man erleben darf, wie ein Autor oder eine Autorin – der oder die gut gestartet – sich noch verbessert.

Donna Leon hat 1992 einen sehr guten Kriminalroman veröffentlicht, Venezianisches Finale. Und das war nicht nur ihr erster Kriminalroman, es war ihr erstes Buch überhaupt. 1993 folgte ein zweiter Band, der wie der erste zum Gutteil in Vendig spielt und dessen Held erneut Commissario Brunetti ist. Der Zürcher Diogenes Verlag hat die beiden Bände 1993 und 1995 dem deutschsprachigen Publikum vorgelegt. Endstation Vendig ist seit dem Frühjahr auf dem Markt.

Und Endstation Vendig ist in der Tat ein noch besseres Buch als das an dieser Stelle im letzten Monat gerühmte Venezianische Finale. Eine Leiche wird im Norden der Lagunenstadt aus einem Kanal gefischt. Schnell ist klar, daß es sich um einen Amerikaner handeln muß – kein Italiener nämlich hätte einen derart guten Zahnarzt gehabt – und schnell ist dieser auch als Angehöriger des US-Militärstütztpunkts in Vicenza identifiziert. Auf San Michele verstreut eine junge Ärztin der Army die letzten Zweifel. Sie ist merkwürdig nervös. Und wenige Tage später ist auch sie tot. Die offiziellen Theorien liegen bald auf dem Tisch, und ihre Aufgabe ist es, Täter zu bestimmen – und seien es Opfer. Und es ist die Aufgabe des Commissarios, Täter zu finden. Aber Brunetti will die wahren Täter. Nun, das ist weder überraschend noch neu für das Genre, befassen sich die meisten Kriminalromane doch mit der Aufdeckung einer verborgen Wahrheit. Und wie meist gelingt es dem Ermittler. Brunetti erkennt die Wahrheit, und er erkennt sie ganz. Er erkennt sie in einem Maß, das gefährlich ist. Die Wahrheit bedroht ihn. Sie ist die Wahrheit vom Müll und dem Tod, vom Staat und der Mafia. Sie wird keine amtlichen Konsequenzen haben, und doch wird sie nicht folgenlos bleiben. Sühne wird es geben, aber nicht das alte Richter-und-Henker-Spiel. Brunetti wird weinen.

Doch es bis es soweit kommt, verfolgt man in Bann geschlagen Brunettis Wege. Und Brunetti selbst, der einem mit den Seiten doch arg ans Herz wächst. Dafür gebührt Donna Leon großer Dank. Sie versteht es, sich Zeit zu nehmen und Brunettis Regungen genauestens einzufangen. Es stockt einem der Atem, wenn man fürchtet, Brunetti wird gleich mit einer Handvoll Koks erwischt, wenn man Brunetti sieht, der sieht, wie alles von einer Sekunde zur anderen zu Ende gehen kann, seine Karriere, seine Familie, sein ganzes Leben. Wenn dann nur die Fahrkarten kontrolliert werden, ist nicht nur der Held selbst erleichtert.

Daß man das Buch am Ende nur beklommen zuschlagen wird, ist gesagt worden. Daß es einen Trost für alle Leser geben wird, sei hingegen noch angemerkt: Im Frühjar 1996 wird Diogenes Donna Leons dritten Brunetti-Roman veröffentlichen.

Diogenes.