Opernball
Steffen Huck betrachtet Haslingers Opernball
Menschen begegnen sich und gehen wieder auseinander. Es sei denn, sie haben
keine Gelegenheit mehr dazu. Es sei denn, sie sterben. Ein Bus wird von
einem Zug zerissen, und die alte alleinstehende Dame, die im Nachbarort
einkaufen war, und die Schulkinder mit ihren Ranzen, die zu den wartenden
Müttern fahren, und die Desperados, die nichts anderes zu tun haben,
mit einem Mal sind sie vereint, können sie nicht mehr scheiden. All
ihre Bewegungen, ihr sämtliches Tun und Unterlassen führte dorthin.
Und die Überlebenden, die zu lange Schlange standen und schäumten
vor Wut, daß sie nur noch die Rücklichter des Gefährts
sehen konnten, sie fragen sich, warum sie nicht dazu gehörten, zur
Gesellschaft derer, die nun eins betrauert werden.
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Die merkwürdigen und oft scheinbar schicksalhaften Begegnungen
fremder Menschen, die so viele Geschichten zu einer einzigen zusammenknoten,
haben Literaten und Filmemacher der Moderne, die nicht mehr an die Isolierbarkeit
und Überschaubarkeit einzelner Geschichten glaubten, immer wieder
fasziniert. Berühmte Beispiele sind Koeppens Tauben im Gras
oder Dos Passos' Manhatten Transfer. Oder die Filme Robert Altmanns.
Ein Buch, das sich dieser ruhmreichen Reihe einverleibt hat, ist Josef
Haslingers Opernball, das in diesem Frühjar bei Fischer erschienen
und inzwischen schon in der 6. Auflage ist.
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Auf dem Wiener Opernball sterben Tausende. Es sterben fast alle. Die Kameras
von ETV sind Zeuge. Die Gäste krümmen sich, sie erbrechen sich,
sie leiden kurz. Sie sind vergiftet worden. Vergast. Mit Blausäure.
Unter den Opfern ist der Sohn Kurt Frasers, des Kriegsberichterstatters,
den die Vorsehung dazu auserkoren hatte, die Übertragung des großen
Spektakels nach ganz Europa zu koordinieren. (Daß die Vorsehung einen
Namen hat — oder ob — darüber wird man nachzudenken haben.) Frasers
Sohn Fred war Kameramann. Und nun soll Fraser die Dokumentation über
das Massaker machen, die zum größten Filmdeal aller Zeiten werden
wird. Aber Fraser kann sich nicht konzentrieren, und er erinnert sich —
daran, wie er Fred, als der noch zur Schule ging, eines Tages sitzen ließ,
daran, wie Fred an der Nadel hing, und wie seine, Kurts, Ehe zerbrach.
Aber Fraser will nicht nur die eigenen Erinnerungen, er will wissen, welche
Fäden, welche Leben sich am Opernball unauflösbar verschlungen
haben. Er führt Interviews. Mit denen, die knapp entkamen, und denen,
die draußen standen. Mit dem Unternehmer, der zwischendurch die Diva
und Geliebte vom Flughafen abholte, mit der Hausfrau, die ihrem Vater einen
letzten großen Wunsch erfüllte, mit dem Polizisten, der gegen
Demonstranten kämpfte, und mit dem Attentäter, dem die Flucht
gelang. Und so lauscht man abwechselnd Fraser und den Aufnahmen. Dabei
entfaltet sich nicht nur ein Portrait, eine Großgeschichte derer,
die da in Wien zusammenkamen, es entfaltet sich ein breites Gesellschaftspanorama,
ein Bild der Neuzeit. Und nicht nur der in Wien. Die Attentäter hatten
nur ein Ziel: die Errichtung des dritten tausendjährigen Reichs. Daß
es auf Verrat gegründet sein würde, wußten sie — zumindest
wußte es ihr Kopf, der Geringste, der sterben wird. Aber auch die
Opfer und ihre entflohenen Angehörigen wurden getrieben, wenn ihre
Motive vielleicht auch nicht so klar umrissen waren: Liebe, Geld, Politik,
Geld, noch ein paar und Geld.
Aber keine Angst!, Haslinger ist nicht so platt wie diese Zeilen. Im
Gegenteil, er ist bis zum Erschrecken differenziert, und es gelingt ihm
alles. Ich hatte Sympathie mit Arschlöchern, war erzürnt über
Nette, verstand manches, was ich gar nicht verstehen will. (Und ich weinte
einmal wieder seit langem über den aufgeschlagenen Seiten eines Buchs,
über ein Bild von Vater und Sohn, das der Vater nicht mehr sehen wird.)
Haslinger beweist, daß es so schlecht um die deutschsprachige Literatur
nicht bestellt sein kann; er beweist, wieviel man mit einem Sinn für
Stil und Form und einem Gespür für Zeit und Themen erreichen
kann. Er hat ein großes Buch geschrieben.