Sex und Sayers

Steffen Huck lobt Elisabeth Georges Romane


Manchmal glaubt man, die Entwicklung gewisser Genres und Subgenres sei an einem Ende angelangt. Weil sie von einzelnen vervollkommnet wurden oder auch weil sie an eine bestimmte Zeit gebunden waren. Und lange Jahre (oder wenn man zurückschaut Jahrzehnte), in denen nicht etwa Stillstand herrscht, sondern jeder Versuch, ein Genre oder Subgenre aufzugreifen, unweigerlich zur peinlichen Persiflage gerät, sind imstande, diesen Glauben zur Gewißheit werden zu lassen. Und umso überraschter, ja konsternierter ist man, wenn das für unmöglich Gehaltene doch geschieht und einer ein Buch vorlegt, das das Gegenteil beweist.

Hammet, Chandler & MacDonald waren ein Beispiel. Es schien, als könnte kein Autor von ihnen lernen. Jeder Versuch, Schemata, Figuren und Sprechweisen aufzugreifen, war bestenfalls anachronistische Wiederholung. Und dann legt ein Berliner Altlinker und Lyriker seinen ersten und immer noch einzigen Kriminalroman vor — nämlich Yaak Karsunke: Toter Mann — und die These ist widerlegt. Man sieht, es war möglich, hinzuhören, das Zeitlose zu filtern und in neuer Zeit zu transponieren. Daß dabei dann der — ich greife hier mutig und gern zum außer Mode geratenen (und nicht durch vielleicht eingeschränkten)
Superlativ — beste Kriminalroman deutscher Zunge der achtziger Jahre herauskam, darf nicht überraschen. Wegen eines schönen Einzelfalls ist die Theorie freilich nicht aufzugeben — bezog sie sich doch, elegant gegen Falsifikation geschützt, auf eine unscharfe Menge. Hard boiled zählte halt nicht zu den gewissen. Und schnell ist, um bei den Kriminalromanen zu bleiben, ein zweites, scheinbar noch besseres Beispiel zur Hand: der klassische Krimi der Zwanziger und Dreißiger — zur Kulmination gebracht von Pfarrerstochter Sayers.

Gerade indem Sayers in ihren späten Wimsey–Romanen die engen Grenzen des Genres durchbrach (und ihre eigenen Regeln verletzte), gerade also indI sie am Ende nur das beibehielt, was eigentlich wesentlich war, dies aber einerseits ironisch selbstbespiegelte und andererseits in Größeres bettete — in breite Gesellschafts-, in große Liebesromane, könnte man sagen, sich Aufruhr in Oxford beispielsweise entsinnend — gerade dadurch schien es, als sei ein Schlußpunkt gesetzt, definitiv wie kein anderer.

Aber wie es einem so geht in Leben und Literatur: die festesten Glaubenssätze werden eingerissen, und wenn es, wie in diesem Fall, ein halbes Jahrhundert dauert. Und wenn es — ausgerechnet — eine Amerikanerin ist, die die so schön gefügten Vorstellungen zuschande gehen läßt. Die Amerikanerin heißt Elizabeth George, und — ja, wenn's dicke kommt, kommt's ganz — sie ist Bestsellerautorin, bei Blanvalet und Goldmann unter Vertrag. Sechs ihrer Romane sind bislang auf deutsch erschienen. Der erste, Gott schütze dieses Haus, 1989, der letzte, Denn keiner ist ohne Schuld, unlängst im Herbst '94. Dazwischen lagen Keiner werfe den ersten Stein, Auf Ehre und Gewissen, Mein ist die Rache und Denn bitter ist der Tod. Und, um es gleich vorweg zu sagen, alle sind zu lesen, und zwar in der richtigen Reihenfolge.

Alle sind sie zu lesen, weil sie alle für sich genommen großartige Romane sind. Und in der richtigen Reihenfolge sind sie zu lesen, weil sie alle — darin vielleicht nur vergleichbar mit den Romanen von Dorothy Richardson — große, weitschweifige Kapitel zu einem Roman bilden, in dessen Mittelpunkt die immer wiederkehrenden Hauptpersonen stehen. Als da sind: Inspector Thomas Lynley, der altI Adel entstammt und den ein Sitz im Oberhaus erwartet, Sergeant Barbara Havers, die nichts mehr verachtet als Schulbildung in Eton und Geschichtsstudium in Oxford, Simon Allcourt–St.–James, den Lynley eines jugendlich–trunkenen Abends zum Krüppel gefahren hat, Deborah St.–James, geborene Cotter, deren Vater Simons Butler ist und die vor ihrer Hochzeit mit Simon ein Verhältnis mit Tom hatte, und Lady Helen Clyde, die vor ihrem Verhältnis mit Tom eines mit Simon hatte. Freundschaft und Beruf (St.–James ist Gerichtsmediziner, und Helen assistiert ihm hin und wieder, wenn sie die Muße allein nicht ausfüllt) führen die fünf über die Jahre hinweg immer einmal wieder zusammen. Und wenn es soweit ist (oder war), schreibt George einen neuen Roman.

Ein Erstaunliches ist dann stets, daß die Autorin sich nicht auf den Markt verläßt und die einmal kommerziell erfolgreichen Muster der jeweils früheren Romane repliziert, sondern sich, im Gegenteil, mit jedem neuen Buch anzuschicken scheint, eine neue Variation oder Spielart der Form des Kriminalromans zu entwerfen. Während es in Gott schütze dieses Haus die ungewöhnliche Kombination von Exposition und Auflösung ist, bei der einem keinerlei Pendant einfällt, so entwirft George in Keiner werfe den ersten Stein ein locked-room-mystery, bei dem fast über das ganze Buch hinweg zwei Theorien (über Täter! und nicht den modus operandi) miteinander konkurrieren, die durch Inspector und Sergeant konsequent vertreten werden, was dem ganzen Buch ein sehr dramatisches Moment verleiht. (Daß der Roman im Theatermilieu angesiedelt ist, zeigt dabei nur, mit welchem Bedacht George Inhalt und Form verquickt.) In Auf Ehre und Gewissen sind es dann mindestens fünf Theorien, die um die Gunst der Protagonisten und Leser buhlen. Es ist beinahe wie beim Staffellauf, nur daß alle Läufer mehrfach starten. Im Rahmen des Großromans ist Mein ist die Rache ein Kapitel, das einen Rückblick wagt — wir sehen Tom und Simon und Deb und Helen zur Zeit, als Tom plant, Deb zu ehelichen, was später, wie oben kurz erwähnt, ja nicht von Tom sondern von Simon vollzogen wird. Die Tatsache, daß man auch viele der anderen Figuren kennt und ergo über deren späteres Schicksal in Kenntnis ist, führt zu einer eigenen Form der Spannung: So weiß man zum Beispiel, daß Thomas Bruder Peter kein böses Unheil widerfahren sein kann (auch wenn es manchmal verdächtig danach aussieht), man weiß auch, daß er nicht der Mörder gewesen sein kann (was man auszuschließen nicht in der Lage wäre, wenn man bei der Lektüre die falsche Reihenfolge gewählt hätt) , denn man kennt ihn ja gesund und munter aus späteren Tagen; was man sich aber dringendst fragt, ist — und die Erwähung Peteres ist nur ein kleines Beispiel —, wie es der Gute geschafft haben kann. Anders gesagt: Während das WAS häufig klar ist, zerbricht einem das WIE den Kopf. Prozedurale Spannung möcht ich's nennen, und man beachte, daß dies mit der Idee des howdunnit nur am Rande zu tun hat. Denn bitter ist der Tod, der fünfte Roman, wartet nicht nur mit einem ungeheuerlichen Motiv auf (das an Tage erinnert, in denen Kriminalgeschichten noch nicht so hießen) sondern ist der bis dahin psychologisch komplexeste.

Und mit spätestens diesem Roman beweist George ein erzählerisches Vermögen, das nicht nur auf rarem Talent sondern vielleicht noch seltener Präzision basiert. In Denn keiner ist ohne Schuld, einem großen Roman über die Bedeutung von Eltern- und Mutterschaft, in dem sich die Motive und Fäden auf — je nach Zählart — vier oder fünf Ebenen gegenseitig reflektieren, in diesem Buch gibt es Sätze von einer Großartigkeit, die keinen Maßstab scheuen muß. Georges Balance zwischen Sagen und Nicht-Sagen, zwischen Ausführleichkeit und Knappheit, zwischen Ex- und Implizitem ist von vollkommenem erzählerischem Gespür. Am eindrucksvollsten zeigt sich dies auf dem Gebiet, das gewissermaßen die Triebfeder aller ihrer Romane darstellt, dem Gebiet des Sexuellen, das so verwirrend vieldeutig sein kann, dem Gebiet, auf dem das Versagen zweit- und drittrangiger Autoren stets besonders deutlich wird. Man lese nur einmal vom Besuch des Constable Shepard bei Mrs. Sage, und man erfährt es etwas darüber, wie der Wirkungsgrad von Sätzen durch Knappheit schier erschreckendes Ausmaß annimmt.

Erinnern Sie sich noch an Harriet Vane und Lord Peter? Erinnern Sie sich auch noch an die beiden auf dem Lande mit Kindern im Haus? Und haben Sie sich jemals gefragt, woher die Kleinen denn kamen? Sie haben, dann wissen Sie, worauf ich hinaus will. Das 'Körperliche' war nicht gerade ein zentrales Ellement bei Sayers. Und damit schließt sich der Kreis. Einerseits hätte man es einfach nicht ohne weiteres für möglich gehalten, Sayers Romane um Sex zu ergänzen. Andererseits schreibt heute niemand mehr gute Romane, in denen von Sex abstrahiert wird. Ergo mußte man an den von Sayers gesetzten Schlußpunkt glauben. Bis Elizabeth George erschien.
 


Asche zu Asche - Elizabeths Georges siebter Roman

vorgestellt von Steffen Huck.

Kenneth Fleming, der es, obwohl er ein Arbeiterkind war, das neue Arbeiterkinder gezeugt hat, vom Betriebssportler bis zum Mitglied des englischen Cricket-Nationalteams geschafft hat, ist tot. Ein Schwelbrand in einem Haus, in dem er eigentlich gar nicht hätte sein sollen, hat ihm den Sauerstoff zum Atmen genommen. Und so liegt er mit rosiger Haut auf der Bahre, als ihn seine Frau identifiziert, die darauf besteht, daß ihr nicht nur Kens Gesicht gezeigt wird –

Die beiden lebten seit vier Jahren getrennt, genau genommen seit dem Zeitpunkt, als Flemings späte Karriere begann, die ihm Miriam Whitelaw, seine ehemalige Englischlehrerin und spätere Arbeitgeberin ermöglichte. Miriams Mann gehörte eine Druckerei, in der man den kleinen Kenny, nachdem er Schule & Karriere zugunsten jugendlicher Vaterschaft aufgegeben hatte, untergebracht hatte. Damals war eine Hoffnung Miriams geplatzt, deren Wunsch es war, als sich ihre Tochter Olivia immer mehr von ihr entfernte, Kenneths außergewöhnliche Talente nach Kräften zu fördern. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, der sich kurz nach einer unverhofften nächtlichen Begegnung des Elternpaars mit ihrer untergetauchten Tochter ereignete, und in deren Verlauf Papa entgegen aller sonstigen Leidenschaftslosigkeit eine Erektion erlebte, ergibt sich für Miriam Whitelaw durch die neue Freiheit und die Übernahme der Druckerei eine zweite Chance, Kenneth Fleming zu fördern. Und so nimmt sie sich erneut seiner an – als Mentorin und Vertraute, vielleicht auch als Mutter und Geliebte. Doch neben Miriam und Ehefrau und Kindern, die drei an der Zahl, gibt es noch Gabriella Patten im Leben Kenneths, das – nach einem abgesagten Griechenlandtrip mit seinem ältesten Sohn Jimmy – ein so jähes Ende findet.

Thomas Lynley, Inspector des New Scotland Yard, übernimmt den Fall, auf den sich die Medien nur zu begierig stürzen. Ihm zur Seite steht wie gewohnt Barbara Havers, die, das sei am Rande bemerkt, im Verlaufe des Buchs eine wunderbare Freundschaft schließen wird. Rasch häufen sich die Indizien – aber auch die Alibis und Erklärungen. Lynley sieht sich, wie er es niedergeschlagen formuliert, mit dem "perfekten Verbrechen" konfrontiert.

Aber dieses Verbrechen ist nur ein Teil der Geschichte. Und die Geschichte ist eine Tragödie. Sie ist so schlimm wie die schlimmsten Geschichten der alten Griechen. Und so wird Lynley gen Ende resümieren: "Da begegnet man dem richtigen Menschen genau im falschen Augenblick; da entscheidet man sich zu handeln, nur um damit den eigenen Untergang herbeizuführen; da erweist sich eine langgehegte Überzeugung als Trugschluß; da erreicht man endlich, was man sich verzweifelt gewünscht hat, nur um zu entdecken, daß man es in Wirklichkeit überhaupt nicht haben will. Und dann dies hier natürlich, diese letzte Ironie." Diese letzte Ironie wird Lynley in ein letztes Dilemma stürzen, nachdem andere vor ihm aus den ihren herausfinden mußten.

Elizabeth George, der nichts Menschliches fremd, hat mit dem soeben bei Blanvalet erschienen Roman Asche zu Asche, der stattliche 760 Seiten lang ist, ihrem großartigen Werk eine wahrlich kühne Konstruktion hinzugefügt, in der neben der Erzählerin, eine junge Frau, Miriams Tochter Olivia nämlich, ihre eigene Geschichte notiert. Asche zu Asche ist formal brillant und lebt von einer wunderbaren und vielseitigen Sprache, die Mechtild Sandberg-Ciletti glänzend übersetzt. Aber Asche zu Asche ist vor allem ein Roman, der mit chirurgischer Präzision zeigt, was Menschen zu fühlen und zu denken in der Lage sind, wie sie Schmerz ertragen oder zufügen können, wie sie lügen oder Verantwortung übernehmen. Und Asche zu Asche ist der Roman mit dem chaotischsten und rührendsten Heiratsantrag und -versprechen, das mir je untergekommen ist.


Elisabeth George: Im Angesicht des Feindes

vorgestellt von Christine Mühlbach

Kampf der Giganten: Die konservative Politikerin Eve Bowen und der linke Skandalblatt-Chef Dennis Luxford spielen mit dem Leben ihrer gemeinsamen Tochter Charlotte, die spurlos verschwunden ist. Die alleinerziehende Mutter verdächtigt Luxford, mittels ihres zehnjährigen Kindes die Regierung stürzen und die Auflagenhöhe seines Schmierblattes in schwindelerregende Höhen treiben zu wollen. Daher untersagt sie Luxford kategorisch, die Polizei einzuschalten, hält sie ihn doch für den Strippenzieher hinter der Entführung von Charlotte. Die beiden Elternteile, die seit ihrer kurzen Affaire auf einem Tory-Parteitag vor elf Jahren keinen Kontakt mehr zueinander hatten, einigen sich schließlich, Gerichtsmediziner Simon St.James einzuschalten, der das Kind aufspüren soll. Die Nachforschungen von St. James kommen zwar gut voran – kommen allerdings zu spät: das Kind wird tot aufgefunden. Und nicht nur das: eine zweite Entführung findet statt: Luxfords ehelichem Sohn Leo droht Charlottes Schicksal. Polizei und die bewährte Truppe rund um St.James, Thomas Lynley und Barbara Havers ermitteln im Dunstkreis von Politik und Medien. Als sich der Nebel lichtet und der Fall gelöst ist, hat als wahrer Täter der Zufall seine Hand im Spiel. Der Kampf der Giganten in Form der Staatssekretärin Eve Bowen und des Boulevardmoguls Dennis Luxford entpuppt sich als Streit zweier Machtmenschen, die die Grenzen ihres berechenbaren Einflusses schmerzhaft zu spüren bekommen: Karrieren sind nicht kalkulierbar.

Ja, Im Angesicht des Feindes ist ein Buch über das Zusammenspiel von Politik und Medien. Es ist aber vor allem ein Buch über Korrumpierbarkeit und Kompromisse, die, wenn sie auffliegen, den Rausschmiß aus dem warmen Nest von Macht und Machern bedeutet: Bowen und Luxford müssen erkennen, daß sie nicht glaubwürdig für die Ziele eintreten, für die zu leben sie vorgeben. Bowens politische Phrasen für alleinerziehende Mütter und hehre moralische Grundsätze schmecken schal, da sie sich als zielstrebige Karrierefrau ohne jegliches Interesse am Tun und Wohle ihres Kindes zeigt. Luxfords Phrasen gegen die konservative Regierung muten heuchlerisch an, da er seinen Sohn Leo auf eine private Eliteschule schicken will. Die Leidtragenden im Kampf um den schönen Schein sind die Kinder Charlotte und Leo.

Elisabeth George zeichnet in ihrem achten Kriminalroman ein detailiertes Portrait der englischen Gesellschaft mit Charakteren, die unter ganz elementaren Konflikten und Zwängen leiden. Zum Beispiel, ob Karriere und Kind zu vereinbaren sind, ob Massenjournalismus und Aufklärung zu vereinbaren sind, ob man die eigene Vergangenheit zugunsten der Zukunft verleugnen darf. Im Angesicht des Feindes gibt darauf keine fertigen Antworten, aber es zeigt nach 730 Seiten, daß glaubwürdig zu bleiben allein schon eine verdammt harte Aufgabe ist. Ein psychologisch ausgefeilter Kriminalroman über den schönen Schein der Normalität und was passiert, wenn diese Fassade zufällig bröckelt.

Goldmann 1996, DM 17,90