Dick Francis legt sein nunmehr über vierzig
Jahren alljährlich einen neuen Kriminalroman vor, der rund um den
Rennsport rankt – jedoch beileibe nicht nur Pferdefreunde erfreut. Der
Diogenes-Verlag macht seit einigen Jahren auch Francis' ältere, ehedem
bei Ullstein erschienene Romane den getreuen Krimiliebhabern zugänglich.
Das Buch, von dem hier die Rede ist, ist Zügellos (Wild Horses im Original) überschrieben. Der Titel verspricht nichts, ist ein recht beliebiger Titel. Wie aber, frage ich mich als begeisterte Francisleserin jedes Jahr, wie schafft es Francis, uns immer wieder aufs Neue mit einer fundierten Story zu beglücken, wie schafft er es, erneut mit einem Helden aufzuwarten, der in gewohnter Manier ein tough und bescheiden auftretender Einzelgänger ist und doch immer wieder ein anderer?
Der Held in Zügellos ist ein Mann vom Film, er ist ein Regisseur,
um genau zu sein, und die Story kreist wie gewohnt um Rennpferde und um
dunkle Machenschaften in ihrem Umfeld. Unser amerikanischer Held und Ich-Erzähler
Thomas Lyon dreht einen tatsachenbasierten Schmachtfetzen, der im Rennsportmilieu
spielt, und es scheint jemanden zu geben, dem die Verfilmung wahrer Begebenheiten
– trotz den über zwei Jahrzehnten, die seitdem verstrichen sind –
partout nicht in den Kram paßt und der gegen den Film zu Felde zieht.
Und dann ist da noch ein alter, sterbender Freund des Helden, der sein
Wissen nach einerletzten mysteriösen Beichte mit ins Grab nimmt und
der irgendwie in die Sache verwickelt zu sein scheint. Seine Schwester,
ihr unsympathischer Sohn und eine Vielzahl außergewöhnlicher
Messer kommen in dem Krimi vor, und alles scheint mit allem zusammenzuhängen.
Kurz: Thomas Lyon hat plötzlich die Hauptrolle inne und sieht sich
urplötzlich einer unheimlichen Ansammlung von obskuren Leuten und
Gegenständen gegenüber, denen er ganz gerne aus dem Weg gehen
würde, die ihn jedoch nicht in Ruhe seinen Film drehen lassen, und
so macht er sich notgedrungen – doch wie jeder von Francis' Helden mit
großem Engagement und Einsatz und einer versteckten Portion Eitelkeit
– an des Rätsels Lösung und auf den Weg zu
Gerechtigkeit.
Man schreibt das Jahr 1957, als Dick Francis, der 37jährige Sohn
eines Rennstallbesitzers und ehemalige Pilot der Royal Air Force, mit weitem
Vorsprung das Grand National anführt. Die letzte Hürde war schon
übersprungen, und der größte Erfolg einer Karriere, die
bis dato 345 Siege zählte, stand unmittelbar bevor. Doch dann stürzt
das Pferd und begräbt seinen Reiter unter sich. Die Umstände
des Unfalls werden nie vollständig geklärt, und Dick Francis
ist so schwer verletzt, daß er das
Rennreiten für immer aufgeben muß.
Fünf Jahre später erscheint der erste Kriminalroman des Exjockeys, Aufs falsche Pferd gesetzt, in dem ein Jockey dem tödlichen Rennunfall eines Freund und Kollegen nachgeht, einem Unfall, der keiner war. Ein brutaler Sabotageakt, den man bei Francis eigenem Sturz immer nur hatte vermuten können, war die Ursache. Der Roman wird ein Erfolg, und Francis schreibt weiter: jedes Jahr ein neues Buch – bis heute. Und alle diese Bücher haben eines gemeinsam: Irgendwo und irgendwann haben sie mit Pferderennen zu tun – manchmal, wie im Erstling, ganz unmittelbar, manchmal nur sehr am Rande.
Und noch eines haben sie gemeinsam: den Typus Helden, der stets die Geschichte selbst erzählt. Zwar haben sie die unterschiedlichsten Berufe und entstammen den unterschiedlichsten Milieus – und beileibe sind nicht alle pferdevernarrt –, doch da ist etwas anderes, eine Art Zustand oder Befindlichkeit (der Seele, so man will): Sie sind samt und sonders auf die ein oder andere Art beschädigt. Sie leiden unter körperlichen Gebrechen, ihre nächsten Verwandten sind gestorben, sie haben sich von ihren Frauen getrennt. Nie würden sie strahlen, denn sie haben keinen Grund dazu. Und: sie wollen keine Helden sein, es sind die Umstände, die sie dazu zwingen. Sie stellen sich den Umständen (und damit der Gefahr), weil sie aufrecht sind. Aber wie ergeht es in den Aufrechten in dieser Welt?
Sie werden getreten und geschlagen, geprügelt und verletzt. Nein, es ist kein leichtes Los, ein Held bei Francis zu sein, denn das bedeutet, Qualen erdulden zu müssen. Und von denen dürfen sie dann nachher sachlich und lakonisch berichten. Wenn sie Glück haben, kommen Sie ja mit ein paar Schlägen in die Magengrube davon, aber manche haben auch Pech.
Man könnte auf die Idee kommen, das alles würde durch eine
Form von Masochismus getrieben. Aber so einfach ist es nicht. Denn bei
all den Schmerzen, die den Icherzählern, die Francis' Kosmos bevölkern,
zugefügt werden, handelt es sich nicht um
private Traumata. Daß jene, die aufrecht sind, sich nicht bestechen
lassen und auch nicht wegsehen wollen, leiden müssen, ist vielmehr
ein Trauma unsres Kollektivs. Und dieses Kollektiv, die Gesellschaft mit
all ihren Tücken beschäftigt Francis im Lauf der Jahre immer
mehr. Spätestens in den Achtzigern werden seine Romane zu Großmetaphern,
deren Oberfläche freilich noch immer bestens unterhalten: Die Bücher
sind kurzweilig und spannend. Sie vertreiben die Zeit im Flug. Und man
kann sie mit größtem Vergnügen lesen, ohne auch nur einen
einzigen Gedanken an das zu verschwenden, was unter ihnen lauert.
In Außenseiter sieht sich ein Autor, der Bücher über das Überleben in der Wildnis verfaßt hat, plötzlich im braven England mit archaischster Gewalt konfrontiert. Und alle Schmerzen, die Francis Protagonisten erleiden mußten, kulminieren, wenn er mit einem Pfeil, der ihm die Brust durchbohrt hat, nun inmitten der Zivilisation ums Überleben kämpfen muß. Es ist das Einbrechen der Elemente in unsere sonst so fein abgeschirmte Tiefkühlpizzawelt. Urgefahren treten zu Tage, von denen wir die meiste Zeit glauben, sie überwunden zu haben – was uns trösten mag. Aber wir irren. Und Zivilisation ist nichts als Schminke, die manchmal bröcklig wird. Und, wenn es soweit ist, ist alles so wie früher. Die Stelle ist freilich so spannend, daß man es niemandem verdenken kann, wenn er beim Lesen an nichts anderes denkt, als daran, wie der Held wohl durchkommen wird. Und letztlich ist Francis dies wahrscheinlich auch wichtiger: Seine Leser nie zu enttäuschen, sie auf beste Art zu unterhalten. So nimmt es auch nicht Wunder, daß sich die Bücher – vor allem in England und in den Staaten – bestens verkaufen. Jede Buchhandlung hält mindestens einen Meter seiner Romane vorrätig.
Trotzdem steht freilich zu hoffen, daß der nunmehr 75jährige eines Tages auch als das gewürdigt wird, was er mittlerweile geworden ist: als einer der besten englischen Romanciers unserer Tage, der es – wie einst Kipling – versteht, Bücher zu schreiben, die wohl jedem gefallen.
Wer Francis kennenlernen will, kann bedenkenlos in die nächste Buchhandlung gehen, um dort eines der beim Zürcher Diogenes Verlag erschienen Bücher zu erwerben. Er kann sich nicht vergreifen, denn es gibt auch nicht ein Schlechtes.
Als Lee Morris an einem späten sonnigen Märznachmittag Besuch
von zwei Fremden bekommt, ahnt er nicht, daß er in den nächsten
vierzehn Tagen dreimal nur knapp dem Tod entgehen wird. Er läßt
die Fremden ein, und sie stellen sich als Verwalter
und Vereinssekretär der Pferderennbahn Stratton Park vor. Lee
Morris ist Anteilseigner der Rennbahn. Ihm gehören 8%. Er hat sie
von seiner Mutter geerbt, die einst mit einem der Söhne Lord Strattons
liiert war.
Lord Stratton ist tot, und die Erben streiten um die Zukunft der Bahn. Einige wollen alles beim alten belassen, andere ausbauen, dritte verkaufen. Eine Versammlung der Gesellschafter steht an, und Lee Morris nimmt nach Jahren der Abwesenheit teil. Dies ist der Auftakt zu gut zwei Wochen, die er in Stratton Park verbringen wird. Mitsamt seiner Söhne, sechs an der Zahl. Die Stimmung unter den Strattons ist gereizt, und sie wird beim Anblick Morris keineswegs besser. Denn Morris erinnert an einen Teil der Familiengeschichte, an den man sich nicht erinnern will. Und bald erfährt man auch warum: Morris Mutter war mit Keith Stratton verheiratet, dem jüngeren Zwillingsbruder Conrads, des neuen Lords, und sie hatte mit Keith ein Kind, das dieser zeugte, indem er sie vergewaltigte.
Aber das ist beileibe nicht das einzige Geheimnis, das die Strattons,
stets um ihren guten Namen bemüht, erfolgreich vertuschen. Und es
ist das verteilte Wissen um die Sünd- und Schandtaten der Söhne
und Enkel, Brüder und Nichten und Onkel und Tanten, das die Familie
zusammenhalten läßt. Doch der Streit um die Zukunft der Rennbahn
bringt das empfindliche
Gleichgewicht ins Trudeln.
Und Lee Morris, dessen Leben sich in einem nicht minder labilen Gleichgewicht befindet; dessen Frau und er als einzige wissen, warum ihr prunkvolles Bett wirklich so breit ist; der seine Söhne auf den ersten Seiten mit Sätzen vorstellt wie "Ein Junge mit braunen Jahren kam auf dem Rad durch den Hausflur gefegt"; der diese Söhne aber auf stille und eigene Art mehr liebt als alles andere und der Gelegenheit haben wird, dies zu beweisen; Lee Morris, der alte, baufällige Häuser kauft, mit seiner Familie in die einzieht, sie renoviert, verkauft und wieder verläßt; der aber dieses eine, in dem das Buch beginnt, zu seiner Heimstatt auserkoren hat, weil auf dem Hof eine alte Eiche steht, in deren Baumkrone er hin und wieder sitzt und träumt; Lee Morris, der seine Heirat mit 19 als Fehler, den er sich nicht eingestehen will, begreift, ausgerechnet ihm ist es bestimmt, mit chirurgischer Präzision die faulenden Eiterbeutel der Familie, der seine Mutter angehörte, freizulegen. Und so wird sich am Ende der vierzehn Tage viel verändert haben.
Dick Francis hat mit seinem im Frühjahr bei Diogenes erschienen Roman Lunte erneut ein Meisterwerk geschaffen. Der Verlag wirbt für den ehemaligen Jockey, der inzwischen über siebzig ist, mit den Worten Dick Francis sei "der unbestrittene Champion unter den Thriller-Autoren". Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn Francis ist einer der besten lebenden Autoren englischer Sprache überhaupt. Fabelhafte Kriminalromane hat Francis seit seinem 1962 erschienen Erstling schon immer geschrieben. Doch spätestens mit seinen in den späten Achtzigern erschienen Romanen – genannt seien beispielsweise Außenseiter und Gegenzug – wurde der Ex-Jockey mehr und mehr zum subtilen Analytiker moderner Gesellschaft, zu einem, der sich ohne jede Prätention wagt, die alte Handvoll Grundfragen auf seine Art zu stellen. Das ihm dies gelingt, ohne die Oberfläche seiner Romane zu beschädigen, macht ihn zu einem der wahrlich Großen.
Und so ist Lunte ein Thriller, der einem das Herz bis zum Hals klopfen läßt, und zugleich ein großartiges (und darin völlig unaufdringliches) Buch über das Leben.