Anläßlich der Vorstellung von Dark Spectre weilte Dibdin Mitte März in München und Berlin. Wir trafen ihn im Berliner Kempinski und sprachen mit ihm unter anderem über sein Verhältnis zu William Blake, die Planung eines Plots, den Tagesablauf in einem Schriftstellerhaushalt und John Travolta.
BiN: Um mit einer vielleicht etwas seltsamen Frage zu beginnen: Haben
Sie Jim Jarmuschs Dead Man gesehen?
Michael Dibdin: Nein, habe ich nicht. Aber ich habe gehört, daß
es da gewisse Parallelen zu meinem Buch gibt.
BiN: Und haben Sie eine Erklärung dafür? Ich meine, daß
zwei zeitgleich entstandene Werke sich völlig unabhängig voneinander
auf William Blake beziehen?
MD: Ich fürchte, das ist reiner Zufall. Ich habe vor rund 25 Jahren
an der Universität ein Seminar über Blake besucht, und da haben
wir uns vor allem mit dem Spätwerk beschäftigt. Und schon damals
dachte ich, daß man, wenn man nur ein wenig verrückt wäre,
glauben könnte, Blake hätte aus göttlicher Inspiration geschöpft.
Und Blake hat sowas ja auch immer wieder behauptet. Er hat zwar nicht gesagt,
daß er das Wort Gottes verkünde, aber daß seine Inspiration
aus einer Art himmlischen Quelle stamme, das hat er schon gemeint. Und
als ich eines Tages im Seminar saß und dem Professor zuhörte,
wie er über die Gedichte sprach, dachte ich wirklich, daß jemand
denken könnte, so ists, Blake hat das fünfte Evangelium geschrieben.
BiN: Aber Sie hatten damals noch nicht die Idee, aus dem Stoff ein Buch
zu machen?
MD: Nein, ich habe überhaupt nicht daran gedacht, das in irgendeiner
Art und Weise zu verwenden. Sehen Sie, als Autor hat man des öfteren
Ideen, die einfach winzige Bruchstücke darstellen - Gedankenbruchstücke,
aus denen man manchmal vielleicht
eine Kurzgeschichte machen kann. Und manchmal hebt man sie einfach
so lange auf, bis sie sich mit anderen verbinden und etwas Größeres
ergeben. Und genau so ging es mir mit Blake, nur daß es eben sehr
lange gedauert hat. Und woher Jarmusch seine Verbindung zu Blake hat -
keine Ahnung; da werden Sie ihn selbst fragen müssen.
BiN: Hinsichtlich Dark Spectre gibt es noch eine andere Sache,
die mich neugierig macht. Das Buch hat ja die beiden parallelen Handlungen,
die sich kapitelweise abwechseln. Haben Sie denn die Kapitel in derselben
Reihenfolge geschrieben, in der sie jetzt im Buch stehen?
MD: Ja.
BiN: So daß Sie von Kapitel zu Kapitel die Perspektive wechseln
mußten...
MD: Ja, genau. Ich brauchte beide Perspektiven für die Struktur
des Buchs. In den ungeraden Kapiteln folgt man ja gewissermaßen dem
Fokus einer Kamera - ohne jeden Kommentar zum Geschehen. Man sieht, was
passiert, hört, was die Leute sagen, und schaut den Ermittlungsarbeiten
zu, aber es scheint keinerlei Zusammenhang zwischen den verschiedenen Ereignissen
zu geben, so daß alles nach Willkür und Chaos aussieht. Als
ich in Amerika auf Tour war, bevor ich hierher kam, meinte ein Interviewer,
Dark Spectre sei ein Buch, das acht verschiedene Eröffnungskapitel
habe. Es scheint achtmal neu zu beginnen. Und auf gewisse Weise stimmt
das natürlich. Einerseits wollte ich auch eine gewisse Konfusion erzeugen,
aber andererseits wurde mir klar, daß das alleine ein zu großes
Durcheinander für den Leser anrichten würde, deshalb wollte ich
daneben auch eine kontinuierliche Geschichte haben, deren Fluß jedoch
immer wieder unterbrochen wird. Und natürlich wird einem irgendwann
klar, daß es für alles, was da passiert und berichtet wird,
irgendeinen Grund geben muß. Und die geraden Kapitel, die in der
Ersten-Person-Singular erzählt sind, liefern dann gewissermaßen
den Hintergrund zu allem, so daß der Leser, wenn in Kapitel 18, glaube
ich, der eigentliche Grund für die Mordserie aufgedeckt wird, die
Hintergründe schon längst kennt - wodurch, wie ich hoffe, das
ganze glaubhafter und echter wirkt.
BiN: Fangen Sie denn stets mit dem Anfang an und hören mit dem
Ende auf, wenn Sie ein Buch schreiben?
MD: Ja. Ich denke doch. Das heißt, manchmal, wenn ich glaube,
daß eine Szene, die irgendwann später stattfinden soll, von
ganz besonderer Bedeutung ist, skizziere ich sie schon einmal vorab. Aber
alles in allem versuche ich das wirklich zu vermeiden, denn oft ändern
sich meine Pläne während des Schreibens.
BiN: Dahin geht auch schon die nächste Frage: Sie kennen den Plot
also noch nicht genau, bevor Sie mit dem ersten Kapitel anfangen?
MD: Nun, ich weiß, wo das Buch anfangen wird, und ich weiß
auch, wo es enden wird, und ich glaube zu wissen, wie ich vom Anfang zum
Ende komme. Aber in der Praxis passieren einfach manche Dinge, während
ich schreibe, so daß die Route, die vom Anfang zum Ende führt,
hinterher immer anders aussieht als anfangs geplant - und zwar manchmal
ziemlich anders. Wissen Sie, das ist, wie wenn man einen Urlaub plant:
Sie wissen, daß Sie in eine bestimmte Stadt fliegen, und Sie wissen
auch, daß Sie von einer anderen Stadt aus zurückfliegen werden.
Das steht fest. Und dann kaufen Sie eine Karte und einen Reiseführer,
und Sie denken, ja, da sollte ich lang fahren, und dort sollte ich eine
Weile bleiben, und dies muß ich mir unbedingt anschauen. Aber dann
passiert oft was - also jedenfalls mir - sobald man angekommen ist. Sie
treffen zum Beispiel jemanden, sagen wir, in einer Bar. Und der sagt Ihnen
dann, Sie sollten sich unbedingt etwas ganz anderes anschauen, und dann
fahren Sie halt dorthin. Oder Sie haben vor, sich etwas ganz Bestimmtes
anzusehen, aber dann regnet es, oder es ist zu kalt - also beschließen
Sie, was anderes zu machen. Und ziemlich schnell sind all Ihre alten Pläne
Makulatur. Ich meine, natürlich werden Sie nach wie vor das Land,
in das Sie geflogen sind, erkunden, und Sie haben auch nach wie vor die
Tickets für Hin- und Rückflug, aber alles andere mag sich ändern.
BiN: Ich nehme an, so macht das auch mehr Spaß.
MD: Ja, mir auf jeden Fall. Ich meine, ich weiß, es gibt einige
Autoren, Frederick Forsyth zum Beispiel, die planen jeden einzelnen Aspekt
in jedem einzelnen Kapitel, bevor sie anfangen zu schreiben, und zwar so
genau, daß sie wissen, was auf jeder Seite später stehen wird.
Agatha Christie hat auch so gearbeitet. Sehen Sie, diese Leute brauchen
sechs bis acht Monate, um ein Buch zu planen, und dann schreiben sie es
schnell - das ist dann ja auch so, als würde man ein Schulbuch schreiben.
Mir ist das viel zu mechanisch, und - und einfach zu langweilig. Ich finde,
es ist viel aufregender und interessanter und letztlich auch kreativer,
ein dynamisches Verhältnis zu einem Text zu haben. Was mir zum Beispiel
ständig passiert, ist, daß ich eine Figur einführen muß,
um einen bestimmten Schritt, der für den Plot nötig ist, möglich
zu machen. Sagen wir, es gibt da eine Person, die will von A nach B, also
brauche ich einen Taxifahrer, der sie transportiert. Natürlich geht
sowas mit ein paar Sätzen, aber manchmal sagt der Taxifahrer irgendetwas,
und es entwickelt sich ein Gespräch. Und, eh man sichs versieht, ist
der Taxifahrer eine richtige Figur im Buch geworden. Und später taucht
er dann in einem ganz anderen Zusammenhang wieder auf und ändert dann
vielleicht sogar den Lauf der Handlung. Also, sowas macht für mich
das ganze Interesse am Schreiben aus.
BiN: Okay, Sie wissen also, daß Sie für den Plot von A nach
B wollen. Aber wenn Sie sich den Plot ausdenken, tun Sie das dann auf eher
abstrakte Weise - also in der Art X tötet Y aus diesem und jenem Grund
und wird überführt, weil er dies und das übersehen hat -
oder denken Sie am Anfang auch schon sehr über die Personen nach,
so daß Sie vielleicht wissen, daß Sie über eine ganz bestimmte
Figur schreiben wollen und dann darüber nachdenken, was diese Figur
wohl machen wird?
MD: Das ist unterschiedlich. Ich habe zum Beispiel ein Buch mit dem
Titel Dirty Tricks geschrieben, das wurde hier von Econ
veröffentlicht - ich glaube, es heißt auf deutsch Schmutzige
Tricks - und in diesem Buch wollte ich über einen ganz bestimmten
Typ schreiben. Ich hatte ein sehr deutliches Bild von ihm vor Augen: ein
vierzig Jahre alter gescheiterter Lehrer, der lange im Ausland gearbeitet
hat, und dann in das England Thatchers Mitte der Achtziger zurückkehrt
und an jeder Ecke Yuppies trifft. Das einzige Thema ist Geld, und das stimmt
ihn deprimiert und zornig, so daß er gewisse Handlungen plant, zu
denen die Verführung der Frau eines Geschäftsmannes gehört.
Also, da habe ich wirklich mit der Figur angefangen und mit einer groben
Idee für den Plot, und alles andere war dem untergeordnet. Aber bei
anderen Büchern, zum Beispiel bei Dark Spectre, habe ich wirklich
mit dem Plot angefangen. Bei Dark Spectre war es die Idee mit der
Sekte und die Idee mit den Zufallsmorden. Das sollte einfach völlig
mysteriös sein, weil es scheinbar keinerlei Motiv gibt. Und dann mußte
ich dafür die Charaktere entwickeln, die in genau diesem Zusammanhang
auftreten würden.
BiN: Wie oft überarbeiten Sie denn einen Text?
MD: Normalerweise erstelle ich mindestens drei Fassungen.
BiN: Und Sie fangen mit der zweiten Fassung an, nachdem Sie die erste
abgeschlossen haben?
MD: Genau.
BiN: Sie gehen also nie zurück, während Sie noch mitten im
Buch sind?
MD: Nein, nie. Ich schreibe die erste Fassung von vorne bis hinten
durch, das heißt, ich muß mich korrigieren, eine Ausnahme gibt
es da doch. Wie ich ja vorhin sagte, ändere ich meine Pläne oft
während des Schreibens. Nun stellen Sie sich vor, Sie haben acht oder
zehn Kapitel geschrieben, und plötzlich haben Sie eine wundervolle
Idee, die die Dinge in Kapitel 11 viel interessanter macht. Aber das hat
manchmal Kosequenzen für das, was in, sagen wir, Kapitel 5 oder 3
passiert ist. Und in diesen Fällen gehe ich stets zurück und
passe die alten Kapitel an - anders vergißt man das womöglich,
und am Ende hat man völliges Chaos angerichtet. Aber sonst versuche
ich einfach nur, flüssig voranzukommen. Ich meine, es gibt manche
Tage, an denen schaffe ich nur ein paar Absätze, und andere, da schreibe
ich vierfünf Seiten. Aber, wieviel auch immer ich schaffe, ich arbeite
so lange, wie es läuft. Dann höre ich auf und fange am nächsten
Tag wieder an. Für mich ist das die Methode, die den besten Rhythmus
im Buch erzeugt. Und ich glaube, das ist sehr wichtig, weil jedes Buch
seinen ganz eigenen natürlichen Rhythmus besitzt. So entsteht die
erste Fassung, und wenn ich dann durch bin, lege ich das Manuskript für
ein oder zwei Wochen zur Seite. Dann nehme ich es mir wieder vor und lese
es in einem Stück durch, wobei - also, ich muß dazu sagen, ich
arbeite mit einem Computer -
BiN: Was schon wieder die nächste Frage gewesen wäre...
MD: Ich scheine alle Fragen zu antizipieren - tut mir leid. Also ich
arbeite seit rund zehn Jahren mit dem Rechner, und ich komme damit sehr
gut zurecht. Ich weiß, einige Leute haben Vorurteile gegen diese
Maschinen, aber ich bin jemand, der sehr viel ändert, und das geht
mit einem Textverarbeitungsprogramm einfach viel leichter - Text hin- und
herzuschieben, Passagen streichen und so fort. Also ich schreibe die erste
Fassung direkt in den Rechner, und dann drucke ich sie aus. Und wenn ich
den Ausdruck dann lese, schmiere ich in ihm rum...
BiN: ... und gehen dann zurück zum Rechner.
MD: Genau. Und bei der Umsetzung der Änderungen kommt es dann
zu weiteren Änderungen. Üblicherweise ist der Schritt von der
ersten zur zweiten Fassung der wirklich große. Ich schätze,
daß sich da so 20 bis 25 Prozent des Texts ändern. Wenn ich
damit durch bin, wiederholt sich das ganze, nur daß das diesmal eher
Polierarbeit, Feinschliff ist. Dann schicke ich das Manuskript an meinen
Lektor nach London - meine Bücher kommen immer zuerst in England heraus.
BiN: Und der Lektor ist dann der erste, der das Manuskript zu Gesicht
bekommt?
MD: Nun, seit zwei Jahren lebe ich ja in Seattle, und zwar zusammen
mit einer Autorin namens Catherine Beck, sie ist auch Kriminalschriftstellerin.
Ich glaube, ein paar ihrer Bücher sind auch in Deutschland erschienen.
Also, jedenfalls, das ist jetzt das erste Mal, daß ich mit einer
Autorin zusammenlebe, und ich habe die Erfahrung gemacht, daß es
nicht viel Sinn hat, Manuskripte Leuten zu zeigen, die nicht selbst schreiben.
Also, vielleicht sollte ich da nicht zu sehr verallgemeinern, aber ziemlich
oft ist es doch so, daß Leute, die nicht selbst schreiben, mit einem
Manuskript nichts anfangen können. Das sieht einfach zu vorläufig
für sie aus, und dann kommt es vor, daß sie Sachen sagen, die
eher wenig hilfreich und manchmal verletzend sind. Aber jetzt, wo ich die
Möglichkeit habe, das Manuskript jemandem zu zeigen, der selbst schreibt,
sind viele Dinge einfacher für mich. Also zeige ich das Manuskript
jetzt immer erst Catherine.
BiN: Und wann? Erst, wenn Sie die erste Fassung fertiggestellt haben?
Oder schon zuvor einzelne Kapitel?
MD: Neinnein. Ich würde ihr nichts zu lesen geben, was in meinen
Augen nicht kurz davor ist, wirklich die allerletzte Fassung zu sein. Aber
ich rede mit ihr darüber - wenn ich zum Beispiel irgendein Problem
habe. Es gibt manchmal diese Situationen, in denen man eine Szene hat,
die irgendwie nicht stimmig scheint, und dann hat man keine rechte Lust,
daran zu arbeiten, und man findet auch nicht raus, worin das Problem eigentlich
besteht. Und das läuft immer gleich ab: Es gibt ein objektives Problem
mit der Szene, und das Unterbewußtsein sagt einem, daß das
anders sein sollte, und so hat man eine Blockade, man kann einfach nicht
schreiben. Und früher hat mich das typischerweise drei oder vier Tage
gekostet, an denen ich rumsaß und vor mich hin grübelte, bis
dann plötzlich - klick - die Einsicht kam. Dadurch, daß ich
jetzt sowas mit Catherine diskutiere, kann ich die dreivier Tage auf 15
Minuten reduzieren. Da sie selbst Krimiautorin ist, denkt sie natürlich
die ganze Zeit in denselben Mustern und kennt dieselben Probleme. Also
gehe ich zu ihr und schildere ihr das Problem, und dann sagt sie, na, warum
machst du das nicht so. Und was dann typischerweise passiert ist entweder,
daß sie eine Idee hat, die ich nur noch ein bißchen abändern
muß, oder sie sagt etwas und ich antworte, nein, so geht das nicht,
aber so kann man's machen.
BiN: So daß das dann der Anstoß zu einer Lösung ist...
MD: Genau, das beschleunigt einfacht den ganzen Prozeß.
BiN: Wie sieht Ihr typischer Arbeitstag aus? Wann stehen Sie auf?
MD: Zu ziemlich normalen Zeiten. Irgendwann zwischen sieben und acht.
Um neun fange ich dann üblicherweise an, ernsthaft zu arbeiten. Und
ich versuche, mindestens drei Stunden dabei zu bleiben, im Schnitt eher
vier, manchmal fünf, und wenn es extrem gut läuft, werden es
vielleicht einmal sechs. Aber ich versuche, nicht zuviel zu machen. Ich
habe einfach festgestellt, daß wenn ich, sagen wir, montags einen
6-Stunden-Tag habe, daß es dann dienstags aller Wahrscheinlichkeit
nach höchstens anderthalb werden. Ich weiß nicht, woran das
genau liegt, aber es ist ganz so, als würde man sich wirklich körperlich
überanstrengen. Also versuche ich aufzuhören, solange ich noch
Reserven habe, und dann laß ich es einfach liegen und vertreibe mir
den Nachmittag mit anderen Dingen.
BiN: Und Catherine arbeitet im selben Rhythmus, so daß Sie die
Nachmittage gemeinsam frei haben?
MD: Mehr oder weniger. Allerdings hat sie drei Kinder, nach denen sie
nachmittags, wenn sie aus der Schule kommen, noch sehen muß.
BiN: Und irgendwann ist dann die dritte Fassung fertig.
MD: Die ich dann an meinen Lektor nach London schicke. Ich versuche,
mindestens zweimal im Jahr nach England zu kommen, denn ich habe da ja
noch Freunde und Familie. Jedenfalls, bei einem dieser Besuche versuche
ich, mich mit ihm zu treffen, um über das Manuskript zu sprechen.
Und er sagt mir dann einfach, ob und wo er irgendwelche Schwierigkeiten
sieht. Glücklicherweise sind das meistens nur sehr wenige, und inzwischen
bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich ihm einfach vertraue. Als ich
angefangen habe, so vor vier oder fünf Bücher noch, war ich viel
unsicherer und nahm immer gleich die Verteidigungsstellung an, und dann
habe ich mich schon mal mit ihm rumgestritten, nur um dann am nächsten
Tag, wenn ich wieder zuhause war und die betreffende Passage nochmal gelesen
hatte, festzustellen, daß er vollkommen recht hatte. Nachdem, wir
dann also miteinander gesprochen haben, überarbeite ich den Text ein
letztes Mal. Wenn ich dann aber das fertige Buch irgendwann in den Händen
halte und reinschaue, denke ich meistens, oh Gott, das hätte ich aber
anders schreiben sollen, und das hier ist, das ist ja furchtbar, und sieh
dir das an: dasselbe Wort in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen.
BiN: Also haben Sie durchaus gemischte Gefühle, wenn Sie das fertige
Buch zum ersten Mal sehen?
MD: Allerdings, denn es ist einfach zu spät, noch irgendwas zu
ändern.
BiN: Aber Sie sind auch ein wenig euphorisiert?
MD: Ja, natürlich. Als Buch sieht das einfach ganz anders aus.
Das hängt genau mit dem zusammen, was ich vorhin sagte - daß
ich das Manuskript ungern Leuten zeige, die nicht selbst schreiben. Leute
haben einfach automatisch Respekt vor einem gedruckten Buch. Man kann ihnen
den letzten Scheiß in die Hand drücken - wenn es nur ein fertiges
Buch ist, werden sie sagen, oh, wow, wie toll, aber geben Sie ihnen Prousts
A la recherche als Manuskript und Sie werden zu hören kriegen, was
ist denn das?, das sieht ja aus, wie etwas, was mein Kind fabrizieren würde.
Also wirklich, das ist psychologisch bedingt. Jedenfalls, normalerweise
bin ich nicht sonderlich glücklich mit einem neuen Buch, wenn es gerade
herausgekommen ist, aber manchmal passiert es dann, daß ich vier
oder fünf Jahre später aus dem Buch nochmal in irgendeiner Buchhandlung
lesen muß. Und dann blättere ich darin, und ich denke, mein
Gott, ist das gut, so was werde ich nie wieder hinkriegen.
BiN: Wie wichtig sind eigentlich gute Kritiken für Sie? Und wie
wichtig ist es, ein großes Publikum zu haben - zu wissen, daß
viele Leute das lesen, was Sie geschrieben haben?
MD: Hm, also erstmal zu den Kritiken. Gute Kritiken sind natürlich
äußerst erfreulich, und sie sind besonders erfreulich, wenn
man glaubt, daß der Kritiker a) das Buch gelesen hat, was keineswegs
immer der Fall ist, zumal in Amerika, und b) das Buch auch verstanden hat,
was noch seltener ist. Wissen Sie, manchmal liest man Kritiken, auch wirklich
sehr gute Kritiken, solche, die der Verlag auf dem Paperback zitieren wird,
und man denkt, nun, das ist eine wunderbare Kritik, und der Bursche sagt
viele nette Sachen, aber hat er auch das Buch gelesen, das ich geschrieben
habe? Es ist wirklich erstaunlich. Und was schlechte Kritiken anbelangt,
muß ich, auch auf die Gefahr hin, unbescheiden zu wirken, sagen,
ich hatte nur sehr wenige. Und dann denke ich halt, okay, du kannst es
einfach nicht jedem recht machen. Nun, zur Zahl der Leser: natürlich
ist es toll, viele zu haben, aber irgendwie kommt es mir weniger auf die
Zahl, auf die reine Quantität an als vielmehr in gewisser Weise auf
die Qualität. Sehen Sie, wenigstens eines meiner Bücher ist in
16 Sprachen übersetzt worden und alle anderen wenigstens in zehn bis
zwölf, und das gibt mir schon eine Befriedigung - zu wissen, daß
ich ein Publikum habe in Deutschland, in Japan, in Frankreich, also nicht
nur in England und Amerika. Das vermittelt mir einfach das Gefühl,
daß ich irgendetwas wirklich richtig machen muß, um Leute mit
so unterschiedlichem kulturellen Hintergrund anzusprechen.
BiN: Sie haben einmal gesagt, Sie wollten lieber ein erstklassiger Kriminalschriftsteller
sein als ein zweitklassiger Mainstreamautor. In meinen Ohren klingt das
ziemlich provokativ, so als wollten Sie hören, daß ein erstklassiger
Kriminalschriftsteller einfach ein erstklassiger Schriftsteller sein kann,
was, nebenbei, meine Ansicht ist. Also, wie ist das zu verstehen?
MD: Das Zitat stammt aus einem Gespräch, in dem mich der Interviewer
gefragt hat, warum ich eigentlich keine richtigen Romane schreibe. Ich
meine, ich glaube nicht, daß das sehr paternalistisch gemeint war,
aber so kam es eben rüber. Er sagte sowas wie: Sie verstehen Ihr Handwerk
doch offensichtlich sehr gut, warum schreiben Sie da keine richtigen Romane?
Das Zitat geht übrigens auf Richard Strauß zurück. Der
hat, als er mit einem Orchester probte, das ein neues Stück von ihm
aufführen sollte und ziemlichen Mist zusammengespielt hat, das Orchester
gestoppt und gesagt, Meine Herren, so kann das nicht gehen, ich bin zwar
kein Komponist von erstem Rang, aber ich bin ein erstklassiger Komponist
von zweitem Rang. Um es anders auszudrücken: was er gesagt hat, ist:
Ich bin zwar nicht Beethoven, aber zum letzten Scheiß gehör
ich auch nicht. Und ich fand immer, daß das eine hübsche Unterscheidung
ist. Das Großartige an Strauß war einfach, daß er sich
völlig darüber im Klaren war, wie gut er war. Er wußte,
daß er nicht zur absoluten Spitze zählte, aber er wußte
auch, daß er schon verdammt gut war. Was ich damit sagen will, ist,
daß mir völlig klar ist, daß ich nicht zur aller ersten
Klasse im Sinne der großen Autoren der Weltliteratur zähle,
aber ich habe den Eindruck, daß es einige gibt, die genau das anstreben.
Nur daß es in der Kunst keine guten Noten für den Versuch gibt.
BiN: Und wer sind die erstklassigen Kriminalschriftsteller neben Michael
Dibdin?
MD: Da gibt es keine. Im Ernst: da gibt es eine ganze Reihe. Also zu
den Leuten, die ich wirklich gerne lese, gehört zum Beispiel Elmore
Leonard. Oder Sara Paretsky, das heißt, die wirklich guten Sachen
von ihr. Ruth Rendell, wobei wieder nur die guten Sachen. Ihr Problem ist
einfach, daß sie viel zuviel schreibt. Dann habe ich Patricia Highsmith
immer gern gelesen. George V. Higgins aus Boston hat ein paar ausgezeichnete
Bücher geschrieben, und Carl Hiaasen - der kann äußerst
komisch sein. Also, da gibt es wirklich viele. Walter Mosley mag ich noch
sehr gern. Wirklich, an guten Kriminalschriftstellern gibt es keinen Mangel,
und das Genre scheint ja immer noch zu wachsen. Ich glaube, das ist eines
der interessantesten kulturellen Phänomene der letzten 20 Jahre, daß
etwas, was eine Nebenrolle gespielt hat, kaum bedeutender gewesen ist als
Science-Fiction oder das Schmonzettengenre, daß das jetzt was wirklich
Großes ist. Insofern hatte ich natürlich auch Glück. Ich
hab genau zum richtigen Zeitpunkt angefangen.
BiN: Da Sie Elmore Leonard erwähnt haben, haben Sie Get
Shorty gesehen?
MD: Ja, hab ich.
BiN: Und hat er Ihnen gefallen?
MD: Ja, sehr sogar - ein wirklich bezaubernder Film, und John Travolta,
das heißt, alle Darsteller spielen einfach phantastisch. Und wissen
Sie was interessant ist - John Travolta hat Leonards Buch gelesen und war
völlig begeistert, und dann hat er das Drehbuch gelesen und mußte
feststellen, daß sie alle wirklich guten Sätze gestrichen hatten,
und so ist er zu den Produzenten gegangen und hat gesagt, entweder kommen
diese Sätze wieder rein oder ich spiele nicht mit. Und ich glaube,
das ist ein wichtiger Grund dafür, daß der Film so gut geworden
ist. Im Film steckt jetzt einfach viel von Leonards Sprache. Zum Beispiel
Travoltas Satz Look at me. Look at me - you are not looking at me.
Das kommt direkt aus dem Buch.
BiN: Und das war einer der Sätze, die Travolta wieder ins Drehbuch
gebracht hat.
MD: Genau. Und da gibt es ein ganzes Bündel Sätze, die direkt
aus dem Buch übernommen sind. Und ich kann mir gut vorstellen, wie
Travolta das Buch gelesen und gedacht hat, ich kanns kaum noch abwarten,
diese Szene zu spielen. Aber so laufen diese Sachen halt. Sie kaufen ein
Buch, weil es eine tolle Sprache hat, und dann streichen sie so lange daran
herum, bis von der eigentlichen Sprache nichts mehr übrig ist. Das
ist einfach lächerlich.
BiN: Zurück zum Schreiben: Arbeiten Sie zur Zeit an einem neuen
Buch?
MD: Ich habe gerade eines fertiggestellt.
BiN: Die letzte Fassung schon? Ihr Lektor hat es schon gelesen?
MD: Wahrscheinlich sitzt er jetzt gerade dran.
BiN: Also werden Sie von Berlin nach London fliegen?
MD: Ja, übermorgen früh. Am Wochenende werde ich mich mit
ein paar Freunden treffen, und am Montag habe ich eine Verabredung mit
ihm.
BiN: Und worum geht's in dem Buch?
MD: Das Buch ist die Nummer 5 in der Aurelio-Zen-Reihe. Es spielt in
Neapel, und es heißt Cosi fan tutti - nicht Cosi fan tutte,
aber natürlich gibt es da eine Verbindung. Für die Reihe denke
ich, ist das Buch eine Art Neubeginn: Der Tonfall ist etwas heiterer -
ganz gewiß jedenfalls, wenn man es mit Dead Lagoon vergleicht. Das
war ein ziemlich düsteres Buch. Sehen Sie, eine Buchreihe zu schreiben
ist etwas ganz anderes als einen einzelnen Roman zu verfassen. Alles, was
man in früheren Bänden einmal einführt, hat man später
zu berücksichtigen und oft beizubehalten. Und da ist es sehr schwierig,
de facto nicht immer ein und dasselbe Buch zu schreiben. Ich meine, in
gewisser Weise ist das Sara Paretsky mit Varshaw Wolinsky so gegangen.
Ich habe mit Sara darüber geredet, und sie hat Varshaw ziemlich satt,
aber es ist nicht gerade leicht für sie, mit der Reihe aufzuhören.
BiN: Weil es eine große Nachfrage gibt.
MD: Und ihr der Verlag Angebote macht, die sie nicht ausschlagen kann.
Also, das Problem ist wirklich, daß das Ganze, wenn man nicht höllisch
aufpaßt, zu einer reinen Wurstmaschine wird. Was man auf der einen
Seite reinsteckt, kommt auf der anderen wieder raus. Also wollte ich für
etwas Abwechslung sorgen. Wie gesagt, es ist viel heiterer, es hat viel
eher den Ton einer Opera buffo. Karl Marx hat doch einmal gesagt, daß
alles zweimal passiert: das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal
als Farce. Nun, ich habe mit der Tragödie angefangen, jetzt kommt
die Farce.
Mit Michael Dibdin sprach Steffen Huck.