Kapitel 1 heißt 'Der Mörder'. Und so fängt es an: Keith Talent war ein Schlimmer. Keith Talent war ein ziemlich Schlimmer. Man könnte sogar sagen, daß er ein ganz Schlimmer war. Aber nicht der Schlimmste. Dann gibt es da noch den Dritten im Bunde, Guy, das Medium: Guy Clinch war ein Guter - jedenfalls ein Netter. Nicola, Keith und Guy. Und Samson Young, der ihre Geschichte erzählt. Samson Young, der ihre Geschichte erzählt, nachdem er ihre Bekanntschaft geschlossen hat. Samson Young, der Keith, Nicola und Guy kennenlernt und weiß, daß ein Mord geschehen wird. Samson Young, der endlich wieder schreiben wird. Der beobachten wird. Der Guy, Keith und Nicola und alle ihre Frauen und Männer, Freunde und Kinder beobachten wird, um über sie zu schreiben. Samson Young, das Neutrum, der der Versuchung, mit Lizzyboo ins Bett zu gehen, zu widerstehen weiß.
Aber der Beobachter ist nicht neutral. Es gilt Heisenbergs Unschärferelation. Der Beobachter verändert die Beobachteten. Flann O'Brien ließ den Ich-Erzähler von In-Schwimmen-zwei-Vögel mit den von ihm erfunden Figuren verhandeln, und manch einer mag gedacht haben, daß diesem Thema nichts mehr hinzuzufügen sei. Martin Amis, der Autor von 1999, läßt seinen Ich-Erzähler mit wahren Figuren reden, echten Menschen, Menschen, die er am Flughafen und in der Bar kennengelernt hat. Aber auch er verhandelt mit ihnen über den Fortgang der Geschichte. Doch diese ist längst geschrieben, der Fortgang determiniert.
Nein, Amis' Figuren haben keine Wahl, nicht einmal der Autor. Genaugenommen, der schon gar nicht. Und so wird Nicola Six, die schon immer wußte, daß sie ermordet würde, ihren Mörder finden. Der Leser kennt ihn. Aber sie, sie wird sich vorbeugen. "Du", wird sie in schockierter Erkenntnis sagen: "Immer du."
***
Aber natürlich ist Amis kein Epigone. Weder deutscher noch angelsächsischer Schreiber. Amis hat etwas von Originalgenie, das das Privileg vergangener Epochen zu sein schien. Amis ist nicht einfach ein großer, womöglich postmoderner Kompilator, obwohl er sehr viel gelesen hat und obwohl er dazu neigt, unaufdringlichst Zitate zu verstecken. Auf der Straße wanken und schwanken die Armen, Leichenzügen gleich. Aller Augen Eis.
Nein, Amis will sich nicht verrätseln. (Noch kein großer Autor wollte das, und jeglicher Versuch, es zu tun, entlarvt den minderbegabten Dilettanten.) Und so muß man auch nicht lange rätseln, welche Welt dies ist, von der Amis schreibt, welche Zustände 1999 herrschen. Es sind die, die aus den heutigen hervorkommen, aus ihnen evolvieren. Und mit beiläufiger Präzision schildert Amis die treibenden Kräfte und die Dilemmata, auf denen sie beruhen.
Jeder betrog, weil jeder betrog. Für einen, der von Hause
Ökonom, ist es faszinierend, wie Amis die moderne Sozialwissenschaft
in Form der Spieltheorie (deren herausragende Vertreter ja 1994 mit dem
Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt wurden) rezipiert,
wie er auch ihre Implikationen für evolutionäre Prozesse verarbeitet.
Nicht minder faszinierend ist Amis als Virtuose der Analogie:
Was haben schwarze Löcher - jenseits des offen Sichtlichen - mit Analverkehr
gemein? Und wie steht es um Enola Gay und den imaginären Freundinnen
kleiner Mädchen? 1999, dessen Originaltitel London Fields
eines der Geheimnisse des Buches birgt, ist die wichtigste Neuerscheinung
des gesamten Frühjahrs.
Steffen Huck.
Mit Martin Amis sprach Sky Nonhoff.
Sky Nonhoff: Sind Sie der Iggy
Pop der britischen Literatur?
Martin Amis: Nun, ich wäre
wohl Iggy Pop, wenn Iggy Pop einen Vater namens Sir Iggy gehabt hätte.
Meine Ausnahmestellung in der englischen Literatur rührt vor allem
daher, daß ich meines Vaters Sohn bin. Eine ganze Menge Leute haben
Vorurteile gegen mich. Und wenn man dann wundersamerweise berühmt
geworden ist, wird alles zu einer self-fulfilling prophecy. Egal,
was man macht, es erregt Aufmerksamkeit, ob es nun interessant ist oder
nicht. Aber im Wesentlichen heißt die Antwort wohl ja.
SN: Für die englische Kritik
sind Sie immer noch der bad boy. Waren Sie ein böser Junge?
MA: Ich war ein sehr wohlerzogener
Junge, ein Traum von einem Knaben, da können Sie mal meine Mutter
fragen. Daß man mich heute noch den bad boy nennt, ist völlig
absurd, da ich in drei Jahren fünfzig werde. Diesen Stempel hat man
mir aufgedrückt, weil es da diesen bösen Mann gab, meinen Vater,
und zwangsläufig mußte dieser auch einen bad boy zeugen.
Mein Vater gehörte zur Gruppe der sogenannten angry young men,
die gegen das englische Klassensystem anschrieben. Daß ich ein fieser
Knochen bin, hat vielleicht auch damit zu tun, daß er am Ende zu
einer Galionsfigur der Rechten wurde.
SN: Aber letztlich ist es doch
ziemlich lächerlich, mit 47 Jahren immer noch den bad boy zu
spielen.
MA: Für den bösen Jungen
ist es an der Zeit, endgültig von der Bildfläche zu verschwinden.
Zumal es den bösen Mann, meinen Vater, nicht mehr gibt. Jetzt ist
es wohl an mir, selbst zum bösen Mann zu werden.
SN: War es nicht manchmal ziemlich
frustrierend, gegen eine so übermächtige Vaterfigur anzukämpfen?
MA: Eigentlich hat mir das ziemlich
viel Sympathie eingetragen, als ich zu schreiben anfing. Aber ich hatte
im Grunde nie Zeit, mir darüber groß Gedanken zu machen. Wenn
du jung bist, hast du keine Angst. Man begreift erst später, daß
Schreiben wie eine Schlacht ist. Es geht nicht nur um Talent - in erster
Linie handelt es sich um eine Frage der Ausdauer.
SN: In Information geht
es um Literatur und Anti-Literatur. Der Bestsellerautor Gwyn Berry sagt,
daß eine Million Menschen sich nicht täuschen können, während
sein Gegner Richard Tull die genau entgegengesetzte These vertritt.
MA: Das ist eine Frage der Differenzierung.
Eine Million Menschen haben höchstwahrscheinlich unrecht, aber warum
sollen sie nicht auch mal richtig liegen? Der Punkt ist der: Gwyn Berry
schreibt eben nicht materialistische Romane wie Jeffrey Archer, in denen
es nur um die Akkumulation von Reichtum geht, sondern multi-ethnische Parabeln,
deren einzige Tugend es ist, niemandem wehzutun. Nackte Heuchelei, das
ist es, worauf es hinausläuft.
SN: Also eine Art Erbauungspornographie?
MA: Therapeutische Literatur, wenn
man so will. Pornographie im Sinne billiger Befriedigung. Die Leute wollen
rührselige Stories und Happy Ends, die Versicherung, daß schon
alles seine Ordnung hat. Alles, was irgendwie unbequem sein könnte,
ist ihnen zuwider. Kein Schriftsteller, der auch nur einen Penny wert ist,
wird sich mit solchem Zeug abgeben.
SN: Verkommt die Verlagslandschaft
heutzutage selbst zu dem "Hundekackpark", den Sie in Information
so detailfreudig beschreiben?
MA: Es gibt eine ganze Reihe von
Leuten, die glauben, daß Informatio" eine Satire auf den Literaturbetrieb
ist, aber dieser Markt ist die Satire gar nicht wert. Der Buchmarkt spiegelt
nur den öffentlichen Geschmack wieder, aber er bildet ihn nicht. Meine
Satire richtet sich eher gegen die Kultur, die diesem Betrieb zugrunde
liegt. Ich befasse mich mit der Farce, die da draußen inszeniert
wird. Das Banale kann eine ungeheure Zentrifugalkraft entwickeln, und meine
Satire ist nichts anderes als militante Ironie. Ironie mit einem militärischen
Ziel.
SN: Ist die Information von Information,
daß die Literatur keine Information mehr transportiert?
MA: Tatsächlich ist die heutige
Unterhaltungsliteratur vollgestopft mit Informationen. Da gibt es Wälzer
von der Größe von Texas, in denen jede Menge Information steckt,
nur daß es keine Information mehr darüber hinaus gibt. Was die
nackten Fakten angeht, besteht überhaupt kein Mangel an Information;
diese Bücher strotzen nur so von akribischer Recherche, aber es ist
nichts dahinter. Wenn man das Ganze mal mit hochgezogenen Augenbrauen
betrachtet, muß man doch zu dem Schluß kommen, daß diese
Art von Information niemanden weiterbringt; genausogut kann man die nächstbeste
Enzyklopädie lesen.
Information ist ein Buch
über Schriftsteller, auch wenn die beiden Autoren, die ich als Hauptpersonen
gewählt habe, höchst unseriöse Vertreter ihrer Spezies sind.
Und letztlich ist das ja auch die Welt, in der ich mich auskenne. Abgesehen
davon hoffe ich natürlich, daß diese Charaktere etwas Universales
haben. Die zwischen ihnen herrschende Rivalität ist ja nun beileibe
nicht allein Autoren vorbehalten. Es ist ein universales Szenario, wenn
man von seinem besten Freund in allen Belangen übertroffen wird und
ihn zu hassen beginnt.
SN: Information, Money
und Success spielen in einem so gut wie ausschließlich maskulin
geprägten Kosmos. Der Literaturbetrieb scheint mir ebenfalls ein männlich
dominierter Kosmos zu sein, und so wird er ja auch in Information
dargestellt: jede Menge profaner Konkurrenzspiele, die unter Männern
ausagiert werden.
MA: Das ist eine Wunde, in die man
den Finger nicht oft genug legen kann.
SN: In Information heißt
es über die Beziehung von Männern und Frauen: "Gina war erwachsen
geworden. Und Richard nicht." Sind Männer dazu verdammt, für
immer böse Jungen zu bleiben?
MA: Männer passen sich nur
einer bestimmten Realität an. Sehen wir uns diese Wirklichkeit doch
mal genau an: Männer, die den ganzen Tag in ihren Büros sitzen,
sich gegenseitig Knüppel zwischen die Beine werfen und einander zu
übertrumpfen versuchen. In ihrer Freizeit setzen sie das Ganze auf
dem Tennisplatz oder dem Bolzplatz fort. Das Hauptinteresse von Männern
liegt darin, anderen Männern zu zeigen, was Sache ist, und da es keinen
biologischen Grund gibt, dieses Verhalten zu ändern, wird es beibehalten.
Das männliche Ego ist eine elende kleine Gegend, ein äußerst
begrenztes Terrain unterdrückter Gefühle, und deshalb wirken
Frauen auf Männer auch so theatralisch. Männer sind cinematisch,
immer cool. Ein deprimierender Gedanke.
SN: Ist die Geschichte der Geschlechter
dazu verdammt, sich auf ewig zu wiederholen?
MA: Sieht so aus. Das vorrangige
Objekt meiner Attacken in den letzten Jahren ist diese allgegenwärtige
Tendenz, die man political correctness nennt. Männer sollen
sich ändern, einen weiblicheren Blickwinkel entwickeln. Natürlich
können wir das, aber bis wir das Ende des Regenbogens sehen, ist es
noch weit hin. Man kann sich nicht kurzerhand umdefinieren, nur weil es
einem gerade in den Kram paßt. Auch rassische Vorurteile lösen
sich nicht über Nacht in Luft auf, nur weil wir sie für verschwunden
erklären.
Ich bin Rassist. Mein Vater war ein größerer Rassist als ich,
und meine Kinder werden wiederum weniger rassistisch sein als ich. Jeder
sollte sich klar und deutlich dazu bekennen, daß wir Rassisten sind.
Die gesamte Political-Correctness-Bewegung ist der Feind der Wahrheit.
Sie ist bloß eine Illusion, vorangetrieben von einer Ideologie, die
an Verlogenheit kaum zu überbieten ist.
SN: Und die Aufgabe des Autors
ist es schließlich, die Wahrheit zu sagen.
MA: In einer meiner Stories gibt
es eine Szene, in der ein Mann eine Japanerin betrachtet. Für ihn
sieht sie aus wie eine Comicfigur, und er hat gehört, daß japanische
Frauen ziemlich gut im Bett sein sollen, sein müssen, wie er
denkt. Schließlich denkt er über die Form ihrer Augen nach und
sagt: "Vielleicht lassen sie sich ja ins Auge ficken." Wenn ich etwas derartiges
schreibe, weiß ich, daß das Anstoß erregen wird, aber
andererseits werden die Leute lachen, weil ein Satz wie dieser eine Art
rassistische Wahrheit enthält. Leute denken solche Dinge, wenn sie
jemanden sehen, der anders ist als sie. In einem politisch korrekten Utopia
wäre es unmöglich, so etwas zu schreiben. Dann wird es nur noch
Beschönigungen geben, und solche sind das genaue Gegenteil von Wahrheit
... und von Kunst, versteht sich. Letztlich geht es darum, sich zu dem
zu bekennen, was man ist. Möglich, daß sich das alles einmal
ändert. Aber bislang ist es dem männlichen Ego noch nicht gelungen,
aus seinem Reptiliengehirn auszubrechen.
SN: Wahrheitsfindung durch Schockbehandlung.
MA: Ja. Es geht um Offenheit. Political
correctness bringt einen doch nur dazu, sich selbst zu verurteilen.
Gwyn Barry ist ein widerlicher Fatzke, schreibt aber die Romane eines Heiligen.
Aber Romane sollten sich eben auch mit Makeln beschäftigen, mit dem,
was nicht perfekt ist. Insofern denke ich, daß es die Aufgabe des
Autors ist, seine Schwächen mit dem Leser zu teilen.
SN: Die Männer in ihren Romanen
reden zwar die ganze Zeit über Sex, sind aber so egozentriert, daß
sie nur noch in der Masturbation Befriedigung finden können.
MA: Kunst und Onanie sind nahe Verwandte,
denke ich. In beiden Fällen ist das Resultat einsame Befriedigung.
Ein Künstler ist per definitionem introvertiert und die meiste Zeit
allein. Worte, Worte, Worte, wie Hamlet sagt. Im Grunde sind wir Autoren
Wichser. Man besorgt es sich allein, hat die totale Kontrolle.
SN: Es geht ja auch um den Verlust
der physischen Stärke, der Virilität und der Authentizität.
MA: Egal, ob man zwanzig oder achtzig
ist, letztlich schreibt man immer über das Altern. Das ganze Leben
dreht sich ums Altern. Anderseits haben selbst die größten Nihilisten
der Literatur, Céline etwa oder Beckett, immer das Leben geliebt.
Weil das Schreiben wie eine Liebesaffäre ist. Updike hat über
Nabokov gesagt: "Das ist ein geradezu erotischer Stil. Er sehnt sich danach,
die flüchtige Realität an seine haarige Brust zu drücken."
Alle Schriftsteller lieben das Leben, auch wenn sie vielleicht eine komplizierte
Beziehung dazu haben. Gute Literatur zieht einen nie runter - das ist ein
ehernes Gesetz. Sonst würden wir uns nach einer Aufführung von
King
Lear oder Othello sofort ins Schwert stürzen. Das Prinzip
der kathartischen Reinigung funktioniert immer noch, und insofern ist es
guter Literatur auch unmöglich, Depressionen zu erzeugen.
SN: Haben Sie je mit der Frau
ihres besten Freundes geschlafen, so wie Gwyn Barry in Information?
MA: Männer können keine
Freunde sein, auf jeden Fall nicht in meinen Romanen. Andererseits muß
man schon eine klare Linie zwischen Fiktion und wirklichem Leben ziehen.
Tatsächlich habe ich eine ganze Reihe guter Freunde. Aber in Romanen
lesen wir nun mal gern von schlimmen Dingen, genauso wie wir uns über
Katastrophenmeldungen in den Urlaubsgrüßen unserer Bekannten
freuen. Wer will schon von sonnigen Tagen am Strand und gutem Essen lesen?
Wir wollen davon lesen, wie jemand im Urlaub mit Ruhr über der Toilette
hängt und sich die Seele aus dem Leib kotzt. Die schlechten Neuigkeiten
- das ist es doch, woran wir wirklich interessiert sind.
SN: Die Männer in ihren Romanen
haben eine geradezu obszöne Lebenslust, aber eigentlich leiden sie
die ganze Zeit.
MA: In einem Roman von Saul Bellow
kommt ein Hund vor, dessen Bellen dem Protagonisten zu sagen scheint: Zum
Teufel, macht doch das Universum ein bißchen weiter auf! Das ist
es, was den männlichen Figuren in meinen Roman ebenfalls in den Ohren
klingt.
SN: Verlieren wir unsere Authentizität
durch die Pornographie, die in alle Lebensbereiche einsickert?
MA: Sie stellt einen Angriff auf
unser eigentliches Dasein dar. Pornographie ist ein Blutsport, ein Gladiatorenkampf,
bei dem andere in die Arena geschickt werden, damit wir unsere Phantasien
ausleben können. Ich verstehe schon, warum Frauen Pornographie ablehnen,
aber in gewisser Weise ist das so wie im alten Griechenland, wenn dem Überbringer
schlechter Nachrichten der Kopf abgeschlagen wurde. Im Grunde bringt doch
der Bote in diesem Fall lediglich die Wahrheit über die männliche
Sexualität zur Sprache. Männer lieben Bilder, Frauen lieben Worte.
Es geht um die menschliche Natur.
SN: Der Literaturbetrieb scheint
mir auch so eine Art Arena zu sein. Wer haßt wen am meisten?
MA: In der Kontroverse um meine
Person war es lediglich A.S. Byatt, die mich angefeindet hat, und sie hat
sich bei mir entschuldigt. Nein, es sind nicht die Kollegen, die mich zum
Haßobjekt auserkoren haben. Es ist ausschließlich die Presse.
Die Journalisten haben die ganze Sache hochgekocht. Es dreht sich dabei
um eine spezielle Art englischer Philisterei. England ist heutzutage nur
noch die Nummer eins im Niedergang, eine Gesellschaft, mit der es stetig
bergab geht.
SN: Die aber führend in der
Literatur ist.
MA: Ja. Wenn eine Gesellschaft im
Untergang begriffen ist, wozu sind Schriftsteller da? In England sieht
man Autoren als die Leute, die sich beim Begräbnis auf die Schenkel
schlagen. Und natürlich muß Literatur kritisch sein. Wir können
den jetzigen Zustand nicht auch noch zelebrieren, dann hätten wir
ja bloß noch Propaganda, noch so eine Wahlverwandte der Pornographie.
In England sind wir die Nestbeschmutzer, die Burschen, die in der Gruft
Graffiti sprühen. Das mögen sie nicht, und deshalb werden Leute
wie ich auch von der Presse angefeindet.
Was das gegenwärtige Hoch der
britischen Literatur angeht, glaube ich, daß es mit den Commonwealth-Autoren
zu tun hat, mit den Rushdies und Kureishis. Als sie an unserer Küste
ankamen, war die englische Literatur nur noch ein Schatten ihrer selbst,
einfach nur noch Mittelklasse, geschwätzige Chroniken von Karriere,
Scheidung und Ehebruch. Diese neuen Autoren haben unserer Literatur wieder
Farbe gegeben, und obwohl wir sie einst versklavt haben, haben sie uns
unsere Freiheit wiedergegeben und der Literatur neue Energien zugeführt.
Vielleicht ist das ja sogar ein Zeichen, daß England auf dem besten
Wege ist, eine funktionierende multikulturelle Gesellschaft zu werden.
SN: Sie haben ja selbst Ihren
Teil zur Erneuerung der englischen Literatur beigetragen. Nicht zuletzt
dadurch, daß Sie in ihren Romanen gelegentlich ja auch selbst auftreten,
gemäß dem Heisenbergschen Prinzip, daß ein beobachtetes
System mit seinem Beobachter kommuniziert.
MA: Postmoderne ist nicht bloß
ein Trend, ein Wagen, auf den irgendwelche Autoren aufgesprungen sind.
Postmodernismus war eine Vorahnung, was aus der Welt wird, und viele Autoren
haben das zur gleichen Zeit gespürt. Es war eine Art Evolution, vergleichbar
vielleicht mit der Entwicklung der Kunst im Italien des 16. Jahrhunderts,
eine neue Perspektive, die Wahrnehmung, daß Platz für Expansion
da war. Und wenn wir uns heute umschauen, erkennen wir, daß die Postmoderne
längst in alle Lebensbereiche eingesickert ist. Fiktion und Realität:
Politische Debatten sind für die Medien inszeniert, Politik selbst
ist ein geschickt verpacktes Produkt. Der Schein der Dinge ist wichtiger
als ihr Kern. Es geht um die Erkenntnis, daß all dies ein manipuliertes
Spiel ist, mit einer Figur, die im Hintergrund die Fäden zieht. Das
ist es auch, wovon die postmoderne Literatur handelt und was sie prophezeit
hat: den Wandel in allen Lebensbereichen.
SN: In einem Artikel über
die Frankfurter Buchmesse haben Sie einmal gesagt: Ich habe die Zukunft
gesehen, und sie stinkt. Wie reagiert ihre Nase jetzt?
MA: Inzwischen sind wir ja weiter
in die Zukunft vorgerückt. Ich finde es faszinierend, daß dieses
armselige kleine Ding, das wir Buch nennen, immer noch etwas von der Größe
eines amerikanischen Flughafens dominieren kann. Es ist immer noch ein
Idiotenrodeo, inszeniert für die Größenwahnsinnigen aus
dem Literaturbetrieb. In gewisser Weise schüchtert mich der ganze
Rummel ein, aber auf der anderen Seite bricht es einem fast das Herz, wenn
man sieht, daß das ganze Tohuwabohu wegen etwas veranstaltet wird,
das doch eigentlich längst vom Aussterben bedroht ist, wenn man den
Medien glauben will.
SN: Und der Vorschuß von
knapp einer halben Million Pfund?
MA: Sie wissen gar nicht, wie teuer
so eine Scheidung ist. Das ist alles längst ausgegeben.
Manche Übersetzungen sind schlecht, manche sind gefährlich
schlecht. Und gute gibt's auch. Klar. Wenn aber nun gefährlich schlechte
Übersetzungen in Fernsehen und Feuilleton als gute ausgewiesen werden,
dann ist der Kanal voll. Wie jetzt. Wie im Fall von Joachim Kalkas deutscher
Fassung eines einst brillanten Buchs.
Die Rede ist von Martin Amis' The Information, und mit dem Titel geht's schon los. Denn Übersetzer (oder Verlag) haben dem deutschen Leser den bestimmten Artikel nicht zumuten wollen. Vielleicht wollte man Anklänge an John Grisham vermeiden, was verständlich wäre. Doch daß dafür Unbestimmtheit und folglich Sinnverlust in Kauf genommen werden, ist alles andere als verständlich. Aber halten wir uns nicht länger mit Kleinigkeiten auf, denn die traurige Wahrheit ist, daß die Übersetzung in toto in die Hose gegangen ist.
Man kann eine beliebige Seite herausgreifen und Amis mit Kalka vergleichen, und immer wird eines dabei klar: Kalka hat sich einen Scheiß um den Ton des Buchs gekümmert. Wo Amis melancholisch ist, ist Kalka umständlich und nüchtern. Wo Amis lakonisch und sarkastisch ist, ist Kalka allenfalls bemüht. Und so weiter und so fort. Natürlich kann man dies als übersetzerisches Prinzip verstehen - gibt es doch eine ganze Schule der Translation, die die Bedeutung von Klang negiert. Wir verabscheuen diese Schule, wollen hier aber nicht darüber streiten. Das heben wir uns für anderes auf.
Zunächst aber ein nettes Wort: Kalka war ohne Frage fleißig. Für sein Honorar hat er hart gearbeitet. So gibt es in dem Buch lange Passagen, die mit dem Idiom schwarzer Gangster gefüllt sind. Und da erforderte vieles mühselige Recherche, die Kalka auf sich genommen hat. Auch sind ihm einzelne Wortspielereien gut gelungen - zum Beispiel die Sache mit dem Kontinentsfall, der sich als Inkontinenzfall entpuppt. Doch gerade anbetrachts dieser Mühen ist es unverständlich und ärgerlich, warum Kalka sich auf so viele Fehltritte erlaubt, warum er sich auf jeder zweiten Seite willkürliche Eingriffe erlaubt, die genauso unnötig wie sinnentstellend sind.
So ändert Kalka beispielsweise gleich auf der dritten Seite einen Namen! Aus Marcus wird Marco. Zwar wird Marcus später auch bei Amis Marco genannt, aber eben erst später. Und Amis hat dafür gute Gründe. Kalka nicht.
Wer Namen ändert, ändert auch Zahlen. Und so macht Kalka (auf Seite 474) aus einem "six-lane highway" eine "achtspurige Autobahn" und verzehnfacht mal eben die Lichtgeschwindigkeit (S. 133), so daß es nun aussieht, als wüßte Amis nicht wovon er schreibt. Oder es wird aus einer Reihe von Projekttiteln, die bei Amis alle mit Un- beginnen, eine ebensolche Reihe, nur daß das Prinzip in einem Fall - und zwar in einem signifikanten - durchbrochen wird. Und gleichzeitig wird aus einem Unconceived ein Unbegriffen. Doch unbegriffen blieb hier höchstens Amis' Arrangement - für Kalka und für den unschuldigen deutschen Leser.
Aus einer "male nurse" macht Kalka einen "Wärter". Aus einer "necessary condition" wird ein "notwendiger Zustand", und aus "singularities" wird etwas "Singuläres" - Kalka scheint nicht die leiseste Ahnung von Krankenpflege zu haben, und auch einfachster mathematischer Terminologie ist er nicht gewachsen.
Aber Joachim Kalka beherrscht noch andere Verwandlungen. Zwei sind besonders bemerkenswert. So kann er aus einem einzigen Wort einen ganzen Satz machen. Und er kann Sätze ganz verschwinden lassen! Das letztere gelingt ihm auf Seite 443. Wo bei Amis 14 Wörter am Ende eines Absatzes stehen, steht bei Kalka - nichts. Das erstere sei hier ausführlich wiedergegeben, denn es dient auch als Beleg für unsere Eingangsthese, daß Kalka sich um Rhythmus und Melodie nicht die Bohne schert.
Das ganze Buch ist von astronomischen Betrachtungen durchwoben. Und so endet ein Kapitel (S. 270) bei Amis wie folgt: "Richard sometimes tried to antropomorphize the sun and the planets - or to solar-systemize his immediate circle. [...] He knew who he was. He was Pluto; and Charon was his art. Gina was Mother Earth. Bipolar, sublunar, circumsolar."
Und nun Kalka: "Richard versuchte manchmal, die Sonne und die Planeten zu anthropomorphisieren - beziehungsweise die ihm Nächsten zu sonnensystematisieren. [...] Er wußte, wer er war. Er war Pluto, und Charon seine Kunst. Gina war Mutter Erde. Bipolar, sublunar. Die Erde kreiste um die Sonne."
Aus einer Aufählung dreier Adjektive werden also zwei Adjektive
und ein Satz. Und das ist in diesem Fall nicht nur eine Vergewaltigung
des Tons, es induziert auch eine andere Bedeutung. Dabei wäre es naheliegend
gewesen, "circumsolar" mit "circumsolar" zu übersetzen. Das Verb "antropomorphize"
hat er ja auch mit "anthropomorphisieren" übersetzt - zu recht ohne
Rücksicht darauf, daß es das Wort in Wörterbüchern
nicht gibt.
Daß Kalka im selben Absatz noch einen anderen Satz in seiner Struktur (und damit in seinem Tempo und Klang) entstellt, fällt kaum noch auf. (Es hätte natürlich heißen müssen: "..., und Charon war seine Kunst.") Nun, so geht es ständig zu in Kalkas Übersetzung.
Es ist die Respektlosigkeit, mit der Kalka Amis' Text behandelt, die wütend macht. (Die plumpen Fehler, die ihm unterlaufen und die ihn an zwei Stellen beispielsweise eine rührende Anspielung auf Amis' Freund Salman Rushdie übersehen lassen, die seien eher verziehen.) Die Respektlosigkeit aber soll an zwei weiteren Beispielen belegt werden. Amis arbeitet häufig mit Wortwiederholungen, mit Repetitionen ganzer Wörterfolgen manchmal. Kalka ist das schnurz. Auf Seite 458, wo sich bei Amis in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen die Bezeichnung toady wiederholt, ist bei Kalka innerhalb eines Satzes (aber das nur nebenbei) erst von Tyrannin und dann von Tellerlecker die Rede. Schlimmer noch ist, was er sich auf den Seiten 482 und 483 leistet. Da übersetzt er nämlich how very unpleasant mit sehr peinlich (was eigentlich schon peinlich genug ist). Der Gag im Original besteht aber nun darin, daß eine halbe Seite ein Truism folgt, wie Amis die unumstößlichen Wahrheiten des Alltags nennt. Da heißt es nämlich:" Things were either pleasant or unpleasant", und der Kreis schließt sich. Bei Kalka heißt es nun aber gerade so, als hätte er vergessen, was er eben noch geschrieben: "Alle Dinge waren schließlich entweder angenehm oder unangenehm", und die Weisheit steht so lose im Raum, wie sie bei Kalka auf verlorenem Posten steht.
Genug. Die Übersetzung ist entnervend schlecht. Und nicht minder entnervend ist es, wenn die Rezensenten im Land sie loben, wenn der Herr vom Tagesspiegel im Literarischen Quartett behauptet, die Übersetzung sei gelungen, ohne daß ihm auch nur irgend jemand widerspricht.
Steffen Huck.